Sie brauchten eine Studie. Als ob die Bettler in unseren Innenstädten unsichtbar gewesen wären. Als stünden sich die Verkäufer von Obdachlosenzeitungen nicht seit Jahren vor den deutschen Supermärkten die Beine in den Bauch. Als hätten sie keine Familien, denn in jeder Familie, mal ist der Neffe, dann die Schwägerin, gibt es einen von denen, die von Almosen leben. Als ob man für die Entdeckung der Pest ein Institut zur Zählung der Beulen gebraucht hätte und das Elend auf unseren Straßen nicht habe riechen können. Die Friedrich-Ebert-Stiftug hat sie, nach langem Suchen, endlich entdeckt, die Unterschicht.
Sie waren alle dabei, als mit Hilfe der Lügensprache - von Reform über Verschlankung bis zu Modernisierung die Millionen aus den Betrieben rausgeworfen wurden. Die schicken Meister des Standortes Deutschland, die Damen und Herren des Politgewerbes, der Meinungszuhälterei und der Betriebsausschlächterinnung. Mit spitzem Mündchen streiten sie jetzt darüber ob man, Oh-Gott-oh-Gott, das Wort Unterschicht nutzen dürfe und wagen zu sagen, solche Begriffe grenzten aus. Da gäbe es noch ganz andere Begriffe: Die Ausgekotzten zum Beispiel, der Menschenmüll oder der Dreck unter den polierten Fingernägeln all derer, die ihre Hände in Unschuld waschen.
Wo waren sie denn, als der Gas-Schröder die Faulenzer erfand, als die Westerwelles von mehr Mobilität schwafelten, als noch jüngst von der längeren Lebensarbeitszeit ein Wunder für die Sozialkassen erwartet wurde. Sie mussten sich um mehr Leistungsbereitschaft kümmern, mehr persönliche Verantwortung des Einzelnen und darum, dass die Zahl der Autos die mehr als fünfzigtausend Euros kosten eine wundersame Mehrung auf unseren Straßen erfuhr. Mehr noch, sie haben sich gefeiert, als sie Steuersenkungen für die Oberschicht verkündeten, als sie die Parole von weniger Staat ausgaben. Längst liegen Steuern und Abgaben in Deutschland unter denen der USA, die Abgabenquote ist so niedrig wie seit Beginn der siebziger Jahre nicht mehr. An der Armut in Deutschland hat sich nichts geändert.
Die Schule der Nation ist die Schule: Schüler-Toiletten die kein Abgeordneter mit seinen blanken Schuhen betreten würde. Helme müssten ausgegeben werden, um sich vor dem bröckelnden Putz zu schützen. Alltägliche Gewalt als Ausdruck alltäglicher Diskriminierung beherrscht die Schulhöfe. Nur die Dreigliedrigkeit des Schulsystems rettet die Kinder der Besserverdiener vor der Berührung mit den Unterschichtengören und garantiert zugleich den weiteren Verfall der Bildung. Ergänzt wird das Programm der Verblödung durch das Unterschichten-TV, durch jene Sender und Sendungen, die den Einfallsreichtum eines Regenwurms verströmen und dem Zuschauer den Intelligenzgrad einer Amöbe abfordern.
Es gibt Schichten, die lassen sich nicht alles gefallen. Die Betreiber der Stromkonzerne zum Beispiel. Angesichts drohender Wahlen, wird es manchem Ministerpräsidenten mulmig: Der Strompreis ist so hoch, dass er nur Ergebnis eines Kartells sein kann, etwas mehr Wettbewerbsanstrich soll es schon sein. Nun will man versuchen den Strompreis zu begrenzen. So nicht, sagen die Stromerzeuger, an der Spitze der RWE-Konzern, dessen marode Überlandleitungen im letzten Winter gefallen sind, dann wird eben nicht mehr in Deutschland investiert. Die Margen der Betriebe sind schon so gering, dass zum Beispiel Eon noch gerade die 30 Milliarden Euro für die Übernahme eines spanischen Konkurrenten auf den Tisch legen kann. Noch weniger darf nicht verdient werden.
Auch die Ackermänner sind eine sichere Bank im Kampf gegen die eigene Armut: Die Vorstände der größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland haben im vergangenen Jahr im Schnitt drei Millionen Euro mehr bekommen. An dieser kühnen Oberschicht sollten sich die Unterschichtler mal ein Beispiel nehmen. Das denkt auch die Kanzlerin: »Wir finden uns nicht ab damit, dass diese Spaltungen so existieren.« Als ob die Frau nicht schon längst abgefunden worden wäre.