Zeitungen, das weiß man, werden herausgegeben, um Gutes zu tun. An der Spitze dieser caritativen Bewegung steht in Deutschland der Springer-Konzern. Und die publizistische Spitze des Konzerns bildet "Die Welt". Ein feinsinniges Blatt das sich zu allen Zeiten vor die Bedrängten und Unterdrückten gestellt hat. Weil der Kapitalismus, jenes scheue Wesen, das selten besungen und gepriesen wird, in diesen Tagen allerlei Anfeindungen ausgesetzt ist, ruft "Die Welt" und ihr Autor Michael Miersch zu seiner Verteidigung auf.

"Krisen" schreibt uns Miersch ins Stammbuch, "gehören zum Kapitalismus wie das Bauchweh zum Festschmaus." Und recht hat er: War uns doch der Kapitalismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als er in England den 14-Stunden Tag und die frühe Einbeziehung von Kindern in die Produktion kannte, ein ständiges Fest der Arbeitsdisziplin: Niemand lungerte herum, nach der Arbeit kam es zu fröhlichen Gin-Fêten, der Jahres-Spritverbrauch eines Londoners lag in jener Zeit bei 63 Litern. Dass dieser oder jener mal einen Kater hatte oder eben "Bauchweh", wer sollte das dem Kapitalismus verdenken?

Dass der Kapitalismus eine "Wohlstandsmaschine" ist, wer möchte das bezweifeln, wenn er der originellen Argumentation der "Welt" folgt: "Ende des 19. Jahrhunderts war Schweden ärmer als der Kongo heute." Siehste, so geht Fortschritt! Was macht es da, wenn seit 1998 bis Anfang 2005 im Kongo rund 4 Millionen Menschen umgebracht wurden und heute, nach Schätzungen der UNO, jeden Tag weiter 1000 Menschen an den Folgen kriegerischer Gewalt sterben. Dass schwedische Soldaten, als Teilnehmer einer "EU-Mission" teilnahmslose Zeugen von Folter im Kongo waren, dass permanente Kinderarbeit in den kongolesischen Minen an die fröhlichen Zeiten im alten London erinnert, das alles erzählt nur davon, dass die "Wohlstandsmaschine" anfänglich immer ein wenig stottert.

Auch, dass "Kapitalismus gesund" ist, wird von Michael Miersch blendend belegt: Die Lebenserwartung von Reichen ist nur noch um zwei Jahre länger als die von Armen. In England zu Beispiel. Dass die Lebenserwartung von Frauen in Asien um etwa 15 Jahre weniger betragen als in Europa und die der afrikanischen Männer um 20 Jahre weniger als die der Europäer hat nichts mit Armut oder Reichtum zu tun: Die Eingeborenen sind einfach nicht so widerstandsfähig. Und die zwei Jahre, die ein armer Engländer weniger hat als ein reicher, verkürzen wahrscheinlich nur ein erbärmliches Leben. So etwas kann ein Segen sein.

Die deutschen Studenten sollten ordentlich gebildet sein. Denn, so "Die Welt", der "Kapitalismus tut viel für die Bildung". Erstmalig kommen leise Zweifel an der Argumentation des Herrn Miersch auf: Wie können diese Studenten denn dann nur so blöd sein für eine besser Bildung zu demonstrieren? Wahrscheinlich sind die Studierenden nur eine temporäre Ausnahmeerscheinung, die notwendig die Regel bestätigt. Die Regel findet "Die Welt" in den finnischen Baum-Ernte-Maschinen, weil die von viel gebildeteren Menschen bedient werden müssen als es die alten Waldarbeiter je waren. Ob die deutschen Studenten die Baum-Ernte-Prüfung bestehen würden? Setzen die Finnen vielleicht solche Maschinen ein, um die PISA-Tests regelmäßig zu gewinnen? Alles Fragen, denen sich die Zeitung sicher bald widmen wird.

Wenn einer was für die Gleichberechtigung von Frau und Mann tut, dann ist es der Kapitalismus. Nie wieder konnte in Deutschland eine so hohe Quote von Frauen in der Erwerbsarbeit festgestellt werden wie in den letzten Jahren des 2. Weltkriegs. Und während Böswillige vermuten könnten, dass solcherlei Emanzipation mit den vielen toten und tötenden Männern zu tun haben könnte oder zu anderen Zeiten mit den niedrigen Löhnen der Frauen, weist uns "Die Welt" einen anderen Grund: "Alle (Menschen) sind potenzielle Käufer". Um es zu übersetzen: Vor dem Konsum sind alle gleich. So ist denn der Kapitalismus ein großer Gleichmacher und Befreier. Denn: "Der Markt hört auf kein Kommando". Mehr an Freiheit kann man sich nicht vorstellen.

Der Kapitalismus braucht Frieden, stellt "Die Welt" fest, weil er Kunden braucht. Und ein toter Kunde sei nun mal ein schlechter Kunde. Rund 55 Millionen Tote kostete der 2. Weltkrieg. Die geschätzten neun Millionen Toten des Dreißigjährigen Kriegs, einem Hauptereignis des Feudalismus, wirken dem gegenüber geradezu lächerlich. Weil aber "Die Welt" sich nicht irren kann, wird es am Sozialismus liegen: Der war in den 2. Weltkrieg verwickelt. Und wenn der, in Gestalt der Sowjetunion zum Beispiel, sich nicht so beharrlich gegen die deutschen Truppen gewehrt hätte, wären einfach mehr Kunden übrig geblieben. Diese Argumentation mag den einen oder anderen nicht befriedigen. Deshalb gibt es heute auch keine Kriege mehr. Nur noch Friedensmissionen.

Nicht zuletzt fördert der Kapitalismus den Umweltschutz, schreibt Michael Miersch, weil er "den Lebensstandard hebt". Und tatsächlich "Die größten Umweltprobleme gibt es in den armen Ländern. Dort werden die Wälder rücksichtslos gerodet und seltene Tiere gewildert." Diese Leuten in den armen Ländern sind mehrheitlich eben keine Kapitalisten. Und wo es an Kapitalisten mangelt, da mangelt es an Vernunft, also auch an Umweltschutz. Immer wieder ist man über die Kühnheit der Gedanken der "Welt" verblüfft. Wenn also, nur zum Beispiel, alle Bänker aus den reichen Ländern in die armen deportiert würden, könnte auch dort die Luft rein werden: Ob denn die Luft rein sei, ist eine bei Kriminellen beliebte Frage.

So wird uns, dank der gedruckten Anstrengungen der "Welt", der Kapitalismus erhalten bleiben: "Er ist die Wirtschaftsweise, die sich ergibt, wenn man die Menschen einfach machen lässt". Also machen die Menschen so vor sich hin. Und der Gipfel einer solchen Entwicklung ist die geistige Inkontinenz, die aus den Spalten der "Welt" in den Kopf von Lesern tröpfelt.