Meine schönsten Fotos liegen im Düsseldorfer Polizeipräsidium: Jung bin ich da, habe noch alle Haare und sehe ziemlich wütend aus. Die Fotos wurden von der Polizei während einer Kundgebung gegen die NPD gemacht. Man hat sie mir, nachdem man mich vorläufig festgenommen hatte, auf dem Präsidium vorgelegt: "Das sind doch Sie, Herr Gellermann! Was Sie da gemacht haben, das nennt man Landfriedensbruch. Na, wenn das Ihr Arbeitgeber erfährt. Muss aber nicht sein. Können wir alles besprechen. Einmal im Monat treffen wir uns und dann . . ." Und dann kam der Anwalt, den Freunde mobilisiert hatten in das Büro der politischen Polizei, es war das 14. Kommissariat, und holte mich da raus. Da ich mit der Widerständigkeit nicht aufhören wollte, sollte es noch viele schöne Fotos geben: Auf Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, gegen dieses oder jenes Atomkraftwerk oder auch gegen die Nachrüstung. Nach 1972 hatte so mancher meiner Freunde keine Lust mehr auf weitere Fotos. Denn in diesem Jahr wurde der "Radikalenerlass" Gesetz und wer Lehrer war oder Lokführer, und auf der falschen Demonstration registriert wurde, der konnte seinen Job verlieren. Rund 1,4 Millionen "Regelanfragen" gab es im Rahmen der westdeutschen Berufsverbote. Da müssen eine Menge Akten, eine Menge Fotos und jede Menge Spitzelberichte zusammengekommen sein. Zumindest die, die mich betreffen, würde ich gern mal sehen.
Statt dessen führt man mir ständig die Akten von irgendwelchen Leuten aus dem Osten vor. Am liebsten die von Gregor Gysi. Die neueste Akten-Entblätterung ("Die Akte Gysi", von der ARD ausgestrahlt) bringt die bisher tollste Enthüllung: Der Vater von Gysi legte dem kleinen Gregor eine Märklin-Eisenbahn unter den Weihnachtsbaum. Aha. Der Mann war Kommunist und Jude: Wie kam der an einen Christ-Baum? Leider haben uns die Filmemacher bei der Beantwortung dieser Frage allein gelassen. Auch warum denn Gysis Vater die Hitlerzeit überlebt hatte, denn eigentlich waren solche wie der alte Gysi in Deutschland ein Fall für das Gas gewesen, wurde nicht berichtet. Aber dass die Eisenbahn DeMark gekostet hat, also aus dem Westen war, das erzählt der Film und auch die Schrecklichkeit der privilegierten DDR-Funktionäre: Das Volk lutschte am Daumen und die Sprösslinge der SED-Fürsten durften mit Märklin spielen! Eine dieser Berliner Zeitungen, die ihre Druckerschwärze von der CSU beziehen und ihre total gesicherten Informationen von diesem oder jenem Taxifahrer, findet den Gysi-Film eine "atemraubend mutige Dokumentation". Für alle, die den Film nicht gesehen haben: Er repetierte die alten, bekannten Vorwürfe, raubte also eher die Geduld als den Atem. Wirklich neu war allerdings die Märklin-Story.
Was ist in unserem Land mutig? Nikolaus Brender, Chefredakteur des ZDF, war ziemlich mutig: Denn er war war einfach nicht glatt genug. Das kostete ihn den Job. Über Gysi abfällig zu berichten, das kostet nix, das kann nur die eigene Karriere befördern. Eine wirkliche Mutprobe wäre eine Dokumentation über die Jugend der Angela Kasner (alias Merkel). Wie der "rote Pfarrer" Horst Kasner (Vater von Frau Merkel) regelmäßig Westpakete bekam, aus denen Angela kräftig futterte. Wie dann die kleine Angela (anders als andere Pfarrerskinder in der DDR) zur Oberschule zugelassen wurde, wieso sie zu einem höchst begehrten Studienplatz gekommen ist und dann auch noch an der Akademie der Wissenschaften hat arbeiten dürfen: Privileg um Privileg. Als Pointe sollte der Filmautor die Stasi-Akte von Frau Merkel aus der Behörde holen und unbedingt das dort vorhandene Foto der jungen FDJ-Funktionärin in der Nähe des bespitzelten Havemann-Grundstückes in die Dokumentation einbringen. Interessant wäre auch: Warum die Merkel so schlau war, ihre Karriere in der Nähe von Helmut Kohl fortzusetzen, während der Gysi sich solchen Schmuddel-Themen wie Hartz IV und Afghanistan zuwandte. Leider würde dieser wirklich mutige Film bereits als Exposé auf dem Tisch der Redaktion sterben, und sein Autor sollte dringend von einer Fernsehkarriere absehen.
In Wahrheit: Merkels Akte interessiert mich nicht. Mich interessieren meine Fotos. Und die Aktenberge in den Kellern des Verfassungsschutz über zigtausend zumeist junge Leute, die im Westen ihre demokratischen Rechte wahrnehmen wollten. Auch ein TV-Film über die vom Berufsverbot vernichteten Existenzen, über das Leben der Spitzel und der grauen Herren, die darüber entschieden, wer denn ein "Verfassungsfeind" war oder nicht, fände meinen ungeteilten Beifall. Hier läge der wahre Mut. Zwanzig Jahre nach dem Ende der zwei deutschen Staaten, wäre die Veröffentlichung der West-Akten ein später Akt der Befreiung.