Vom mächtigen Sender SAT 1 über den hochtrabenden Berliner Tagesspiegel bis zum exquisiten Gießener Anzeiger: Keine kleine Reihe deutscher Medien setzt sich in diesen Tagen mit einer Jugendstudie auseinander, deren Quintessenz "Abschottung und Flucht in künstliche Paradiese" lautete und die vom Axel Springer Mediahouse München in Auftrag gegeben worden ist, um von "dpa" als Meldung verbreitet zu werden. Auftragnehmer und Exekutor der Studie ist das Institut Rheingold, dessen Chef, Stephan Grünewald, im Ergebnis der Studie zu einer überwältigenden, summarischen These kommt: "Die Jugend weiß nicht, woran sie ist!". Grünewald, der unter anderem glaubt, dass die deutschen Jugendlichen in einem "toleranten Versorgungsparadies" leben, wurde bereits mit seinem Buch "Deutschland auf der Couch" verhaltensaufällig, in dem er mit folgendem Satz zu seiner gedanklicher Höchstform auflief: "Wir brauchen eine Vision, ein Leitbild, um uns zu bewegen. Da steht uns aber unsere Nazi-Vergangenheit im Wege und damit das Verbot: Von deutschem Boden darf nie mehr eine visionäre Kraft ausgehen!«

Sie steht einfach im Weg, die Nazi-Vergangenheit und sie war, liest man Grünewalds Satz so wie er formuliert wurde, eine visionäre (voraussehende, traumhafte) Kraft. Nicht der Nazi-Alptraum wird zitiert oder die rückwärts gewandte Ideologie verwünscht, Vision ist Vision, wenn sie denn nur suggestiv genug ist. Suggestive Kräfte ähnlicher Art sondern Grünewalds Auftraggeber ab, die mit den Zeitungen "Yam" (Young Adult Magazin), "Popcorn" und "Mädchen" sich dem Taschengeld von Jugendlichen nähern wie der Onkel mit der Schokolade seinem Objekt der Begierde: Kein Versprechen ist billig genug, um Auflagen und Anzeigen zu generieren. Wenn Grünewald in seiner Studie deshalb zum Schluss kommt, dass Jugendliche in Deutschland verunsichert seien, weil sie sich in einer von "Konsum und Künstlichkeit geprägten Welt" befänden, könnte er, den Ursachen folgend, seitenweise aus den Blätter des Springer Mediahouse zitieren.

Mal macht man sich dort um die "Pop-Prinzessin" Britney Spears Sorgen, die von ihrem Anwalt verklagt wird ("Mädchen") oder darum, wer denn der neue deutsche Superstar wird ("Yam") oder um irgendeinen singenden Martin, der "sein Herz öffnet" obwohl er doch gar kein Autochirurg ist ("popcorn"). Es sind diese Blätter, die jungen Menschen eine Ersatzwelt bieten, in der die Vision verbreitet wird, sie alle könnten Stars werden, wenn sie nur RTL gucken oder irgendeines der in "Mädchen" oder "popcorn" beworbenen Produkte kaufen. Und es ist insbesondere das Blatt des Springer Mutterhauses, die allerliebste Bild-Zeitung, deren Welterklärung sich zwischen "Wie süss!" (junger Eisbär) oder "Mörderisch!" (Islam) bewegt. Wer sich von solch medialen Geistesriesen bezahlen lässt, der kommt - mitten im Lehrstellenmangel und hoher Jugendarbeitslosigkeit - zur zynischen Behauptung eines deutschen "Versorgungsparadieses".

So funktioniert Pluralismus: Hier kann jeder sagen, was er will, im Rahmen der Marktgesetze versteht sich. Wenn sich Auftrag und Auftraggeber widersprechen, wenn ein scheinwissenschaftliches Hüh dem auflagensteigernden Hott nicht entspricht, ist das so was von gleichgültig, solange die unterschiedlichen Zielgruppen nur mit den jeweils passenden Informationen bedient werden. Im Rahmen ihrer durch langen Medienkonsum eingeschränkten Aufnahmefähigkeit versteht sich. Und weil der Pluralismus, das Nebeneinander völlig beliebiger Meinungen, die Grundlage unserer Demokratie bildet, sind die Heranwachsenden auch nicht "Auf Hierarchien und Leistungsdruck in den Unternehmen" vorbereitet. Zumindest in diesem Punkt ist der Studie eine gewisse Ehrlichkeit zu eigen: Spätestens in den Unternehmen ist Schluss mit dem einerseits andererseits. Jetzt droht die Hierarchie. Und wir sollten die Jugendlichen endlich mit der dort herrschenden Vision vertraut machen: Ohne Sharholder-Value ist alles nichts.

Wenn man erfährt, dass auch das Bildungsministerium in Nordrheinwestfalen, dessen Ministerpräsident einst die anspruchsvolle Parole "Kinder statt Inder" ausgegeben hat, die Springer-Studie memoriert, dann weiß man um deren hohen wissenschaftlichen Grad. Noch beindruckender aber ist die Basis der Studie: Ganze 40 Jugendliche im Alter zwischen zwölf und siebzehn Jahren wurden "tiefenpsychlogisch" befragt. Diese gigantische Zahl reichte der Deutschen Presse Agentur für eine Meldung und den deutschen Medien für Schlagzeilen. Auch wenn das Statistische Bundesamt seinen Mikrozensus mit 370 000 Haushalten beziffert und ein Institut wie Infratest mindestens 1.000 Wahlberechtigte befragt, um Tendenzen zu ermitteln, sagt uns die zitierte Springer-Studie doch, was wirklich repräsentativ ist: Das was zur besinnungslosen Abschottung von der Wirklichkeit und der Flucht aus derselben nötigt.

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