Eigentlich müssten sie jetzt alle in Sack und Asche gehen und öffentlich Abbitte leisten -jene Heerscharen von Politikern, Bankern, Managern, Unternehmern, sog. Experten und Medienleuten, die jahrzehntelang der alleinseligmachenden Religion des Neoliberalismus gehuldigt und mit dem dreifachen Schlachtruf „Deregulierung, Flexibilisierung, Privatisierung!“ jene globale Finanzblasen-Ökonomie mit befördert und sanktioniert haben, die jetzt geplatzt ist. Doch die ideologischen Bankrotteure denken gar nicht daran, öffentliche Selbstkritik zu üben, geschweige denn ihre Posten zu räumen, was nach einem solchen Systemzusammenbruch eigentlich geboten wäre. Die Statthalter und Repräsentanten des gescheiterten Staatsozialismus in den neuen Bundesländern wurden seinerzeit auf brutale Weise abgewickelt, aber die Hohepriester und Statthalter des gescheiterten Neoliberalismus bleiben weiter in Amt und Würden. Ja, sie dürfen sich jetzt gar noch als Regierungsberater und Krisenmanager in Szene setzen. Ein groteskes Schauspiel: Die Marktradikalen von gestern, die stets die „unsichtbare Hand des Marktes“ gepriesen und jegliche staatliche Intervention und Regulation als „sozialistisches“ Teufelszeug verschrieen haben, rufen jetzt unisono nach der rettenden Hand von Vater Staat. Sie sind, gleichsam über Nacht, zu leidenschaftlichen Etatisten und Keynesianern geworden. Eine solche eilige und massenhafte Konversion hat man lange nicht erlebt. Sie erinnert, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, an das Jahr 1990, als so viele Ex-Kommunisten und Ex-Sozialisten, zur Freude der FAZ, plötzlich das Loblied des Kapitalismus und der „sozialen Marktwirtschaft“ sangen.

Angesichts der Implosion des Weltfinanzsystems und der hereinbrechenden Wirtschaftskrise hat allerorten eine hektische Suche nach den Ursachen der Krise und nach den Schuldigen eingesetzt. Letztere waren denn auch schnell dingfest gemacht: die „maßlose Gier“ und „Selbstbedienungs-Mentalität“ gewisser Manager und Investmentbanker, vor allem der Wallstreet-Broker, hätten die Krise verschuldet, verkünden die Mainstream-Medien. Die Krise zu personalisieren und ihren Ursprung im Ausland zu verorten, das kommt beim Wahlvolk immer gut an. Inzwischen sind sich die Experten und die Parteien (fast)aller Couleur darin einig, dass der Ursprung der Krise in den deregulierten Finanzmärkten zu suchen ist, die jene Spekulationsblasen erzeugt haben, die jetzt geplatzt sind. Diese Diagnose, so unstrittig sie sein mag, hat insofern etwas Tröstliches, als sich aus ihr ein ebenso einfaches wie plausibles Rezept ableiten lässt: Man muss die außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte nur vernünftig regulieren und wieder unter Kontrolle bringen - dann wird sich die Wirtschaft, ist die jetzige Krise erst überstanden, schon wieder erholen, und alles wird wieder gut!

Was aber, wenn die Krise ihren Ursprung primär gar nicht in den Finanzmärkten, sondern in der von dieser dominierten Realwirtschaft hat? Wenn also die globale Bankenkrise erst die Folge eine fundamentalen Krise der Kapitalverwertung in der warenproduzierenden Wirtschaft ist?


Zu dieser Einschätzung gelangen inzwischen etliche Theoretiker, Wissenschaftler, Soziologen und Ökonomen des globalisierungskritischen Spektrums, u.a. Tomasz Konicz in seiner (bei Telepolis publizierten) „Kleinen Geschichte der Weltwirtschaftskrise“, auf die ich mich im folgenden beziehe.

Der Siegeszug des neoliberalen, durch die Dominanz der Finanzmärkte geprägten Wirtschaftsmodells resultierte aus der tief greifenden ökonomischen Krise der frühen 70er Jahre, die nahezu alle westlichen Länder erfasst hatte. Diese Krise beendete eine seit den frühen 50er Jahren anhaltende Periode wirtschaftlicher Prosperität. Dieses „Goldene Zeitalter“ (Hobsbawn) des Kapitalismus basierte auf einer „inneren Kapitalexpansion“, durch die zuvor ausgeklammerte Lebensbereiche für die Kapitalverwertung erschlossen wurden (u.a. Haushaltsgeräteindustrie, Unterhaltungselektronik, Flugzeugbau). Im Zentrum dieses lang anhaltenden stürmischen Wachstums stand die Massenmotorisierung: Mittels Fließbandproduktion und unter intensivem Einsatz von Arbeitskraft und Maschinen wurden Massengüter hergestellt, die - dank relativ hoher Löhne- in ihren Produzenten auch ihre Konsumenten fanden. Dieses fordistische Akkumulationsmodell, das die Grundlage des „Wirtschaftswunders“ bildete, geriet Anfang der 70er Jahre in die Krise; die Märkte waren gesättigt, die Phase der „inneren Expansion“ war abgeschlossen.

Ab diesem Zeitpunkt kehrte die - seit Jahrzehnten in den Industrieländern nicht mehr gekannte- Massenarbeitslosigkeit zurück. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten. Informations-technik und Mikroelektronik wurden zu Trägern einer veritablen postindustriellen Revolution, die immer neue Rationalisierungswellen auslöste. Damit begann sich auch die Lohnarbeit, das eigentliche Substrat der Wertschöpfung im Kapitalismus, zu verflüchtigen.

Wie von Marx dargelegt, lässt die beständige Produktivitätssteigerung durch den Einsatz neuer Technologien den Anteil des konstanten Kapitals (Maschinerie) im Verwertungsprozess steigen und den des variablen Kapitals (Arbeitskraft) sinken. Der nun geschrumpfte Anteil des variablen Kapitals teilt sich bekanntlich in notwendige Arbeitszeit, deren Gegenwert den Arbeitslohn bildet, und Mehrarbeit, die den Mehrwert erzeugt, den sich der Unternehmer aneignet. Aus der Relation zwischen diesen beiden Elementen des variablen Kapitals ergibt sich die Mehrwertrate.

Genau an diesem Hebel setzten die neoliberalen Reformen der „Reagomics“ und des „Thatchismen“ in den 80er Jahren an. Durch das Absenken der Kosten für die „Ware Arbeitskraft“ (inklusive der Lohnnebenkosten, die eine Lohnkürzung darstellt) wurde der Anteil der „notwendigen Arbeitszeit“ (Lohn) verkürzt und derjenige der Mehrarbeit verlängert. Auf diese Weise gelang es für eine gewisse Periode, die sinkenden Profitraten durch die Erhöhung der Mehrwertrate zu kompensieren. Die stagnierenden Löhne, die Steuergeschenke für die Reichen und Wohlhabenden und der rapide Sozialabbau ließen die Gewinne der Unternehmen wieder kräftig sprudeln und die privaten Geldvermögen enorm anwachsen; gleichzeitig aber- und das war die Kehrseite der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben - sank die Massenkaufkraft und damit die Binnennachfrage. Zu den Warenbergen, die keine Käufer mehr fanden, gesellten sich nun Berge von Geldkapital, das in der sog. Realwirtschaft immer weniger profitable Anlagemöglichkeiten fand. Infolge der sinkenden Massenkaufkraft und der chronischen Unterkonsumption drohten klassische Überproduktions- und Überakkumulationskrisen.

Für Abhilfe sorgte die seit den 80er Jahren immer weiter expandierende und deregulierte Finanzindustrie. Sie nahm das überschüssige Kapital auf, das nicht zuletzt durch die Privatisierung der Daseinsvorsorge (Lebensversicherungen, Pensionsfonds, Riester-Rente u.a.) enorm angewachsen war, und setzte es als Zockerkapital ein. Die während der Boomphasen diverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgten gleichzeitig für kaufkräftige, wenn auch weitgehend kreditfinanzierte Nachfrage, die sich wiederum stimulierend auf die Warenproduktion auswirkte. Da Geld so billig zu haben war, suchten die Banken mit einem immer höheren Einsatz von Krediten, die größtenteils wieder von anderen Banken geliehen wurden, ihre Profite zu steigern und mit möglichst wenig Eigenkapital die Eigenkapitalrendite hoch zu hebeln. Die Explosion der „Verbriefungen“ von Krediten in Form von Wertpapieren, der Credit Default Swaps, der außerbilanzlichen Zweckgesellschaften, der Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften sowie die Explosion der Wettgebühren aus dem Verkauf von Wetten auf Preise, Kurse, Währungen, Rohstoffe etc. hat hier ihre Ursache.

Diese „Finanzialisierung des Kapitalismus“ mittels Kreditdoping und eines schuldenfinanzierten Nachfragebooms erreichte globale Dimensionen, indem sich mit der Zeit Defizitkreisläufe mit den USA als Mittelpunkt herausbildeten: Die exportorientierten Länder wie China, Japan und Deutschland liefern ihre Waren in die USA und investieren das Geld dort sogleich wieder- vornehmlich in deren Finanzsektor. Chinas Staatsbank, welche die größten Dollarreserven der Welt hält, kauft en masse amerikanische Staatspapiere, sie leiht den USA praktisch das Geld, damit diese weiter die billigen chinesischen Produkte kaufen können. Mit einem Wort: die US-Konjunktur der letzten Dekade war auf Pump gebaut.

Es war absehbar, dass dieser künstliche schuldenfinanzierte Nachfrageboom, der auch die amerikanische Immobilien-Blase erzeugte, irgendwann zusammenbrechen würde. Jetzt aber, da die Blasen geplatzt sind und die Party vorbei ist, bricht sich die immanente Krisendynamik der spätkapitalistischen Produktionsweise wieder Bahn. Die mit den Umwälzungen der Mikroelektronik und der IT-Technik einhergehende „dritte industrielle Revolution“ setzt immer mehr Arbeitskräfte frei, macht Lohnarbeit in nie zuvor erlebtem Maße überflüssig. Die Folge ist eine chronische „Krise der Arbeitsgesellschaft“, die vor unseren Augen zerfällt: messbar nicht nur an den steigenden Arbeitslosenzahlen, sondern auch an den sich rapide ausbreitenden prekären Arbeitsverhältnissen (Leih- und Zeitarbeit, Teilzeit- und Kurzarbeit, befristete Verträge, 1- Euro-Jobber usw. ) und dem inzwischen riesigen Niedriglohn-Sektor, den die Herren der Deutschland-AG ganz bewusst so gewollt und mit Hilfe der Schröderschen „Agenda“-Politik installiert haben.

Es ist denn auch kein Zufall, dass just die Automobil-Industrie im Zentrum der Wirtschaftskrise steht. Sie hat nicht nur ungeheure Überkapazitäten aufgebaut, hier ist auch die Produktivität besonders schnell gestiegen. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI, verriet ein stolzer VW-Chef jüngst der Zeit, sei in Wolfsburg um mehr als 10 Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos 15 Prozent weniger Leute nötig sind.

„Obwohl Lohnarbeit seine Substanz bildet“, resümiert Tomasz Konicz, „ist das Kapital …gesetzmäßig bestrebt, den Anteil der Lohnarbeit an seiner Reproduktion immer weiter zu senken. Die Finanzialisierung des Kapitalismus hat diese Krisentendenzen vermittels Defizitkonjunktur, Blasenbildung und Verschuldung für einige Dekaden absorbiert, doch nun brechen sie verstärkt hervor. ‚Die einzig wirkliche Barriere der kapitalistischen Produktion’, prognostizierte bereits Marx, ‚ist das Kapital selbst’. Wir befinden uns somit am Vorabend einer veritablen Systemkrise des kapitalistischen Weltsystems.“

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Immanuel Wallerstein, der Doyen der Weltsystem-Theorie. „Le capitalisme touche a sa fin!, erklärte er Le monde in seinem jüngsten Interview. Die realen Akkumulationsmöglichkeiten dieses Systems seien an ihre Grenzen gestoßen- auch deshalb, weil die aufholenden und wirtschaftlich erstarkten Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien und die linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas dem bislang ungehinderten Reichtumstransfer von der Peripherie ins Zentrum mehr und mehr Grenzen setzen. Wallerstein prognostiziert einen epochalen Umbruch, in der Dimension vergleichbar jenem, der beim Übergang vom 16. ins 17. Jahrhundert die Ablösung des Feudalismus durch den Frühkapitalismus einleitete. Da die Machteliten nicht mehr in der Lage seien, das von Krise zu Krise taumelnde System ins Gleichgewicht zu bringen, sagt er eine lange „Phase des politischen Chaos“ voraus.

Auch wenn niemand prognostizieren kann, wo die Reise hingeht nach diesem größten Crash in der Geschichte der Weltfinanz, eines ist schon jetzt absehbar: Dass der Weg, den die (noch vor kurzem neoliberalen) Regierungen beim Krisenmanagment eingeschlagen haben, nur in eine neue Sackgasse führt und die nächste Krise vorbereitet.

„Unternehmen und Politik ignorieren die Wirklichkeit. Alle bisherigen Konjunktur-prognosen werden bis Ostern überholt sein“, erklärte soeben der Chefökonom der Deutschen Bank, und sagte für 2009 einen wirtschaftlichen Einbruch von mindestens 5 Prozent voraus; worauf der Dax unter 4000 Punkte fiel. Was ein solcher Einbruch für den Arbeitsmarkt, an Mindereinnahmen für den Bund und an Mehrkosten für die Bundesagentur für Arbeit bedeutet, kann man sich ausrechnen. Noch versucht man die Kernbelegschaften der Autobranche per Kurzarbeit zu halten, die Randbelegschaften brechen bereits weg. Soeben gab VW bekannt, dass 12 000 Leiharbeiter entlassen werden müssen.

Wenn der Staat jetzt die deutschen Opel-Bauer mit Bürgschaften und Finanzspritzen vor der drohenden Pleite bewahrt, werden zig andere bedürftige Unternehmen gleichfalls die Hand heben. Schon macht das böse Wort von der „VEB Opel“ die Runde. Beginnt, nach dem Zusammenbruch des neoliberalen Modells, jetzt eine Ära des Staatskapitalismus- mit dem Staat als Generalunternehmer und Generalschuldner?

Die Kosten für die Rettungsschirme für Banken und Unternehmen werden sich bald der Billionen-Grenze nähern. Niemand weiß, wie viele Hunderte Milliarden der Steuerzahler noch auf sich nehmen muss, um das marode Bankensystem zu sanieren und die Privatbanken vor der Pleite zu retten, obwohl viele Experten meinen, dass unser kommunales und staatliches Bankensystem ausreichen würde, um den Kreditbedarf der Wirtschaft zu befrieden. Die deutschen Kreditinstitute sind mit toxischen und Risikopapieren im Umfang von bis zu einer Billion € Euro belastet, und viele Institute verschleiern bislang ihre Bilanzen. Auch weiß kein Mensch genau, welchen Schuldenberg die öffentliche Hand mit der Übernahme oder Verstaatlichung der HRE auf sich lädt; in jedem Falle werden dies dreistellige Milliardenbeträge sein.

Auch die von der Finanzkrise schwer getroffenen Banken in den einstigen Boom-Wirtschaften Mittel- und Osteuropas erweisen sich zunehmend als schwarze Löcher. Ungarn droht bereits die Staatspleite. Soeben hat die Europäische Union das für Osteuropa geforderte Rettungspaket von 190 Mrd € abgelehnt. Wenn die mittel- und osteuropäischen Finanzinstitute zusammenbrechen, dürfte dies weitere zwölf westeuropäische Banken, darunter auch einige deutsche, die sich sehr in Osteuropa engagiert haben, ins Strudeln bringen.

Jedenfalls ist die Talsohle der Bankenkrise, geschweige denn die der Wirtschaftskrise, noch lange nicht erreicht. Und sie droht, EU- weit zu einer chronischen Krise der Staatsfinanzen werden, die noch die nächste Generation belasten wird und die der Gesellschaft, ungeachtet aller rotgrünen Rhetorik, kaum noch einen finanziellen Spielraum für einen „sozialökologischen Umbau“ lassen dürfte.

Mehr und mehr hoch verschuldete EU-Länder geraten in Zahlungsschwierigkeiten und müssen sich vor dem drohenden Staatsbankrott fürchten: nach Island jetzt Irland, Lettland, Griechenland, Portugal und Spanien. Auch über Italien, dem höchst verschuldeten Land der EU, ja, selbst über dem United Kingdom, dessen Neuverschuldung 9 % des BIP beträgt, schwebt schon der Pleitegeier. In Berlin und Brüssel wird bereits über einen Europäischen Währungsfonds nachgedacht, der nach Art des IWF operieren und zahlungsunfähige Mitgliedsstaaten, die ihre Lehrer, Busfahrer und Polizisten nicht mehr bezahlen können, mit Krediten unterstützen soll, unter strengen Auflagen, versteht sich. Dass diese Auflagen in erster Linie den Zweck verfolgen werden, die Interessen der Gläubiger zu befriedigen, wissen wir von den sog. „Strukturanpassungsprogrammen“, mittels derer der IWF Jahrzehntelang bedürftige Dritte-Welt-Staaten zu einem rigorosen Sparkurs, zur Streichung sämtlicher Sozial- Gesundheits- Bildungs- und Infrastrukturprogramme sowie zur Privatisierung und zum Verkauf der letzten, noch halbwegs rentablen Staatsbetriebe gezwungen hat. Eine makabre Vorstellung, die aber demnächst Realität werden könnte: Dass die in Bedrängnis geratenen Länder innerhalb und außerhalb der Euro-Zone bald einem vergleichbaren System chronischer Schuldknechtschaft ausgeliefert sein werden wie so viele Länder des Trikonts gegenüber den Gläubigerstaaten- und Banken des Pariser Clubs.

Was aber bedeutet das alles? Es bedeutet, dass sich die Dominanz der Finanzmärkte, die nach dem Willen aller globalisierungskritischen Netzwerke und der durch die Krise alarmierter Bürger und Parteien „gebrochen“ werden soll, in absehbarer Zukunft noch zunehmen wird. Der jetzt von den Regierungen eingeschlagene Weg der Krisenbewältigung via Sozialisierung der Verluste , d.h. durch öffentliche Verschuldung bis an die Schwelle des Staatsbankrottes, wird die Staaten und Unternehmen, die sich das Geld auf den internationalen Finanzmärkten leihen müssen, noch abhängiger von ihren Geldgebern und Gläubigern machen als bisher. Auch wenn, wie jetzt in Großbritannien, große Teile des bankrotten Bankensektors verstaatlicht werden, wird sich an dieser Tendenz im Prinzip nichts ändern. Wohl können unter staatlicher Regie und Kontrolle die schamlosen Boni- und Managergehälter begrenzt, dubiose Deals mit Steueroasen und die Exzesse der Spekulation unterbunden werden, aber auch eine Staatsbank wird sich, unter kapitalistischen Rahmenbedingungen, den Schuldnern und Gläubigern gegenüber kaum anders verhalten als eine Privatbank. Und wie jede Krise des Kapitalismus wird auch diese zu einer weiteren Konzentration des Kapitals, sowohl im Finanzsektor als auch in der Realwirtschaft, führen und sich damit der Reichtum und die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und Ressourcen weiter in immer weniger Händen konzentrieren.

Auch bedarf es keines besonderen Weitblicks, um vorauszusehen, was Politiker und Experten noch kaum öffentlich auszusprechen wagen: Dass die ungeheuren Geldmengen, die jetzt die Regierungen aufnehmen müssen, nach einer gewissen Inkubationszeit zu einer weltweiten Inflation führen werden. Und dass die gigantische Verschuldung der öffentlichen Haushalte über kurz oder lang zu einer Erhöhung der direkten und indirekten Steuern und Abgaben führen wird. Während die Gläubiger und privaten Geldvermögensbesitzer, welche die eigentlichen Profiteure der Finanzblasen-Ökonomie waren, von den Zinsen und Zinseszinsen der immer weiter wachsenden Staatsschuld ad infinitum profitieren, werden die Arbeitnehmer, Kleinsparer und Rentner nochmals im großen Stile enteignet. Arbeitslosigkeit, Armut und Altersarmut werden für immer mehr Menschen zum Schicksal werden. Auch für die Kernländer der EU dürfte sich bald bewahrheiten, was der britische Publizist Tony Parsons jüngst für sein Land prognostizierte: „Ich glaube, wir erleben bald wieder eine Gesellschaft, wie sie Charles Dickens beschrieb, nach Klassen scharf getrennt, nur für das 21. Jahrhundert.“

Gleichwohl setzt noch immer eine Mehrheit der Bürger, Politiker und Meinungsmacher hierzulande, sei es aus Ignoranz, Nostalgie oder Populismus, auf die rheinische Spielart des Kapitalismus, auf die „Rückkehr zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Erst das wird die Welt aus der Krise herausführen“, verkündet die FAZ vollmundig. Als ob die unabdingbare Prämissen und Voraussetzungen der „sozialen Marktwirtschaft“ - das fordistische Akkumulationsmodell mit seinen hohen Wachstumsraten, hohen Lohnabschlüssen und Vollbeschäftigung, den noch weitgehend regulierten Märkten, sowie der Konkurrenz eines sozialistischen Weltsystems, das, trotz Mangelwirtschaft, seinen Bürgern einen gewissen Sozialkomfort bescherte - nicht längst der Vergangenheit angehörten! Dieses „goldene Zeitalter des Kapitalismus“ kommt nicht mehr zurück, so wenig wie mit einer leibhaftigen Auferstehung des Wirtschaftsheiligen Ludwig Erhard zu rechnen ist. Es wäre auch eine Illusion zu glauben, es ließe sich innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und seiner unerbittlichen Logik der Profimaximierung „soziale Verteilungsgerechtigkeit“, gar eine „solidarische Ökonomie“ verwirklichen. Es war ja nicht einmal im vergangenen Aufschwung möglich, die Masseneinkommen (Nettolöhne plus Sozialleistungen) real zu erhöhen.

Der durchrationalisierte High-Tech-Kapitalismus –man weiß es doch eigentlich längst- ist zum Opfer seiner immensen Produktivität geworden. Gefangen in seiner eigenen Logik, ist er jedoch nicht in der Lage, den Überfluss umzuverteilen, darum muss dieser periodisch vernichtet oder an der Börse verzockt werden. Er ist auch nicht in der Lage, die immer knapper werdende Erwerbsarbeit fair zu verteilen. Die Folge ist eine chronische „Krise der Arbeitsgesellschaft“. Schon vor 20 Jahren schrieb André Gorz: „Wenn wir an die Stelle der Arbeitsgesellschaft nichts anderes setzen, nehmen wir deren Zerfall einfach hin -und mit ihm alles, was er an Elend, Hoffnungslosigkeit, Unvernunft und Gewalttätigkeit hervorbringt.“ Dann aber wird sich die jetzt schon bedrohliche Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die Zugang zu Bildung, Ausbildung, Arbeit und Einkommen haben, und in diejenigen, denen dieser Zugang versperrt ist, irreversibel verfestigen.

Da das Kapital immer den Maximalprofit sucht, wird der Reichtum auch nicht dazu verwandt, um Bereiche zu entwickeln, die unterdurchschnittliche oder gar keine Renditen abwerfen, z.b. in den Ausbau von öffentlichen Bildungseinrichtungen und der Kinderbetreuung, in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und der erneuerbarer Energien. Er wird auch nicht dazu verwandt, die individuellen Fähigkeiten jedes Einzelnen zu entwickeln, nicht in massive Arbeitszeitverkürzung, Gesundheitsprävention und verbesserte Gesundheitsversorgung. Er wird schon gar nicht zur Bekämpfung der Armut verwandt, die sich als Kehrseite des Reichtums ebenso schnell entwickelt wie dieser.

Und jetzt, da das System zusammengestürzt ist, soll die Allgemeinheit auch noch in Haftung genommen werden und für die Verluste derer aufkommen, die während des Booms gigantische Vermögen angehäuft haben. Ist das nicht der Gipfel aller Perfidien, die den Bürgern von den staatstragenden Eliten zugemutet werden? Allein seit 2002 sind die Privatvermögen in Deutschland um fast 800 Mrd. Euro gewachsen. Aber da die bürgerlichen Regierungen es nicht wagen, diese Vermögen anzutasten, indem sie eine „Reichensteuer“ oder „Millionärssteuer“ erheben, bleibt ihnen nur der Weg einer gigantischen Staatsverschuldung auf Kosten der Steuerzahler und der nächsten Generation.

Nein, auf der Basis dieses Systems gibt es letztlich keine Lösung für die Probleme und Widersprüche, die es erzeugt. Was nach diesem beispiellosen Bankrott, der nicht nur ein Bankrott des Neoliberalismus, sondern der gesamten, auf dem Privateigentum basierenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist, auf der historischen Agenda steht, wäre in der Tat ein Systemwechsel. Denn das bestehende System lässt sich nur noch um den Preis einer gigantischen Kapitalvernichtung aufrechtzuerhalten. Oder um mit Marx zu reden: Die privatkapitalistischen Eigentumsverhältnisse sind längst zur Fessel für die weitere Entwicklung der materiellen und menschlichen Produktivkräfte geworden, ja, sie haben sich, unter dem eisernen Zwang dieser Verhältnisse, in gigantische Zerstörungskräfte verwandelt.

Wenn den Staaten demnächst die Knete und die Puste ausgehen, wird es – wie jetzt schon in Dublin, Athen und Paris - bald auch in anderen EU-Ländern zu Massendemonstrationen, (General)Streiks und Betriebsbesetzungen kommen. Dann wird man sich vielleicht wieder daran erinnern, was einmal Gemeingut der „Proletarier aller Länder“ gewesen ist: dass die Produzenten des Reichtums auch über ihre Produktionsbedingungen verfügen sollten, damit der von ihnen erarbeitete Reichtum für die maximale Entfaltung ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten verwendet wird, statt in Krisen vernichtet und per Spekulation verjubelt zu werden.

Michael Schneider ist Essayist und Romanautor, Soziologe und Mitglied des Akademischen Beirats von Attac. Er lehrt als Professor an der Filmakademie Baden-Württemberg. Seine letzten Prosawerke: „Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners“ (2001) und „Das Geheimnis des Cagliostro“(2007), ein Schelmenroman.