Es muss ein Tunnel her. Vom Reichstag zur US-Botschaft. Der Tunnel darf nicht allzu hoch sein: Die Abgeordneten sollten schon angemessen kriechen müssen. Laut wird "The Star-Spangled Banner" durch die Röhre schallen, wenn die Abgeordneten einen Zugang zu den TTIP-Akten haben wollen, die, so erfuhr die deutsche Öffentlichkeit jüngst vom Bundestagspräsidenten Lammert, in der US-Botschaft am Brandenburger Tor unter Verschluss gehalten werden. Bisher sind es 139 Beamte aller Art, deren Namen keiner kennt, die in den Akten kramen dürfen. Aber bald dürfen die "Vertreter des ganzen Volkes" auch mal reinschauen. Vielleicht.

Denn noch ist der Brief des kühnen Bundestagspräsidenten von der göttlichen US-Regierung, die Norbert Lammert untertänigst um Akteneinsicht gebeten hatte, nicht beantwortet. Auch in anderen unterworfenen Ländern Europas hat die Macht "Leseräume" eingerichtet, in denen anonyme Beamte geheime Verhandlungsprotokolle lesen dürfen. Natürlich nur dann, wenn sie vorher ihre Handys, Tablets, oder Kameras abgegeben haben. Ihren Amtseid erhalten sie beim Rauskriechen unbenutzt wieder zurück. Während der Beamte in kniender Haltung lesen kann, wer an der Verschwörung gegen Europa beteiligt war, achtet das US-Sicherheitspersonal darauf, dass keine Notizen gemacht werden. Dass ihm am Ende das Gehirn gebügelt wird, ist nur ein Gerücht: Beamte, die nicht schon vorher grundgebügelt wurden, haben keinen Zutritt.

Wer einmal zu Fuß vom Reichstag über die Ebertstraße zum Pariser Platz 2, der US-Botschafts-Zwingburg, gegangen ist, der weiß was dem Abgeordneten auf seinem Pilgerpfad alles geschehen kann: Er könnte sich unbeobachtet wähnen und unvermittelt den aufrechten Gang proben. Bei Regen könnte ihm sein Gewissen, dem er grundgesetzlich verpflichtet ist, nass werden und Rostflecken bekommen. Wähler könnten irgendeine alberne Rechenschaft von ihm fordern. Und gegenüber der Botschaft lockt der Tiergarten, in dem Vögel in Freiheit auf die USA pfeifen und so ein schlechtes Beispiel geben. Hebt der Volksvertreter den Blick, statt ihn demütig zu senken, geraten ihm die Abhör-Antennen auf dem Dach der Botschaft ins Auge, und Fragen geraten ihm vielleicht ins Gehirn: Was wissen die alles von mir: Von den Pornos, die ich runterlade, oder den Essen, zu denen ich eingeladen wurde?

Allwissenheit ist das wesentliche Kennzeichen der Allmacht. Zugleich braucht die Macht Millionen von Nichtwissern: Nur Nichtwissen macht das Wissen wirklich wertvoll. Wenn alle alles wüssten, könnte der Gedanke von Selbstermächtigung aufkommen, jenem gefährlichen Wunsch nach Autonomie, der Verhältnisse ändern würde. So sind die TTIP-Akten eine Art Abstandshalter. Das weiß Lammert. Er könnte ja auch eine Auslagerung der Akten in ein allgemein zugängliches, öffentliches Gebäude fordern, oder auch einen Auftritt des Geheimen im allen erreichbaren Internet. Nein. Lammert ist ein Vertreter der Vertreter, ein Reisender ohne Handlungsvollmacht. Ihm ist das Symbol der Wallfahrt zum Heiligtum wichtig. Einfach so Akten einsehen: Das darf nicht sein.

Es wird ohne Tunnel nicht gehen. Doch vor dem Gang in den Tempel der Macht sollte der Abgeordnete den Gebetsraum des Bundestages aufsuchen. Die von Günther Uecker gestaltete Kapelle wird der Gewissenserforschung dienen: Habe ich mich an der Macht versündigt, in Gedanken, Worten und Werken? Hunderte von Ueckers Nägeln durchbohren das Kreuz im Raum, so bohrend wie die Fragen, die sich der Delinquent vor dem Gang durch den Tunnel stellen soll. Doch dann, gereinigt und geläutert, darf er den Fahrstuhl nach unten benutzen, zum Stollen des geheimen Wissens. Wenn Lammert eine positive Antwort bekommt. Wenn Lammert überhaupt eine Antwort erhält. Wenn Lammert und seine Abgeordneten-Truppe des amerikanischen Herrschaftswissens würdig sind. Und der Tunnel wird sein ein Zeichen der Gnade, amen.