"Die Linkspartei", erklärte mir mein Nachbar Herr A. im Zusammenhang mit den NRW-Wahlen, "ist völlig unberechenbar!". Herr A. dagegen, ein passionierter Pensionär, ist völlig berechenbar. Jeden Samstag geht A. zum Zeitungsladen seiner Wahl und gibt seinen ausgefüllten Lottoschein dort ab. Herr A. tippt auch bei den diversen Wahlen auf das richtige Ergebnis. Pünktlich findet er sich bei seinem Stammtisch ein. Dort ist die Welt wohl geordnet. A. und seine Freunde haben recht, der Rest der Welt ist aus allerlei unordentlichen Zufällen zusammengesetzt. Ordnung ist das halbe Leben, sagt Herr A. wenn von Afghanistan, den Türken oder anderen unordentlichen Verhältnissen die Rede ist. Längst hat er Frau Merkel verziehen, dass sie eine Frau ist.
"Aber die Linke in NRW gilt doch als unberechenbar."
(Spiegel Online)
Herr Pinkwart von der FDP hatte eigentlich damit gerechnet, dass er nach den Wahlen in NRW, gemeinsam mit Herrn Rüttgers von der CDU, seine schöne schwarz-gelbe Koalition hätte weiterführen können. Nun, da das nicht mehr geht, macht er eine neue Rechnung auf, die ihm und den Seinen eine ordentliche Fülle von Dienstwagen und Vorzimmern sichern soll: Er sei bereit für eine Ampel-Koalition, aber nur, wenn die SPD und die GRÜNEN nicht mit einer "extremen Partei wie die Linken" reden. Auch Pinkwart ist berechenbar. Er gehört dieser Westerwelle-Gruppierung an. Dort kann man, wenn man ein Freund von Guido ist oder fleißig gespendet hat, immer einen sicheren Platz in einem Regierungsflieger bekommen.
"Die Linke ist derzeit nicht regierungsfähig. Punkt."
(Hannelore Kraft, SPD)
Herr A. hat mir mal die Finanzkrise so erklärt: Nur weil es unter den kleinen Anlegern so viele gierige Leute gäbe, hätten sich die Banken gezwungen gefühlt, wacklige Papiere mit hohen Renditen an diese Kunden auszugeben. An sich sei das System völlig berechenbar, nur die spontane Gier von Menschen, die nicht mit Geld umgehen könnten, habe zu diesem Unfall geführt. Aber solch verlässliche Politiker wie die Frau Merkel, die haben dann - ruck-zuck versteht sich - den Laden aufgeräumt, Geld ins System gepumpt, ihre Regierungsfähigkeit bewiesen und alles wieder ans Laufen gebracht. Die Frau von Herrn A. geht einmal die Woche zum Friseur. Herr A. zweimal im Monat.
"Mein Ziel ist, den Einzug dieser chaotischen, in Teilen extremistischen Partei in den Landtag zu verhindern."
(Sylvia Löhrmann, GRÜNE)
Rund 133.000 Treffer erreicht man bei Google, wenn man die Kombination "Die Linke - unberechenbar" eingibt. Deutlich mehr Treffer, nämlich 226.000, erzielt man, wenn man die Begriffe "Rüttgers" und "verlässlich" auf die Such-Reise schickt. Auf Rüttgers, den Ministerpräsidenten von NRW, konnte man sich immer verlassen. Pünktlich kam er zu seinen Gesprächsterminen, wenn man ihn gebucht hatte. Seine Partei hatte schlaue Berechnungen angestellt, um eine Wählerinitiative für die CDU, die wesentlich aus der CDU bestand, ins Rennen zu schicken. Auch wenn manche dieses Fake als extremen Wählerbetrug bezeichneten, galt die CDU doch nicht als extremistisch.
"Die Linke wird als extremistische Partei bei uns vom Verfassungsschutz beobachtet."
(Jürgen Rüttgers, CDU)
Als die Kanzlerin den Griechen anfänglich kein Geld geben wollte, wußte Herr A. wie richtig das war. Als sie den Griechen dann doch Geld gab, war das, laut Herrn A., auch wieder richtig. Frau Merkel, versicherte mir mein Nachbar, hätte die Europäische Union gerettet, auf sie sei Verlass auch in schwierigen Situationen. Jedes Jahr fliegt A. für ein paar Wochen "ins Warme". Wenn er zurück kommt, weiß er gerne zu berichten, dass die dort keinen Kaffe kochen können. Als es dann hieß, nach den Griechen seien auch andere Südländer finanziell angeschlagen, sah A. darin einen Zusammenhang: Wer keinen ordentlichen Kaffee mache, der habe auch keinen ordentlichen Haushalt.
"Die Linkspartei weiß ja gar nicht, ob sie überhaupt Verantwortung übernehmen will."
(Claudia Roth, GRÜNE)
Verantwortungslos sei die Linkspartei, wußte Herr A., die wollten ja nicht mal den notwendigen Hilfsmaßnahmen für Griechenland zustimmen! Da sähe man es wieder! Seit ein paar Tagen treffe ich den A. nicht mehr im Hausflur. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, ob er denn die Haftungsübernahme von 750 Milliarden Euro für die europäische Währungsstabilität ohne jede Spekulations-Bremse noch für berechenbar halten würde. Herr A. soll, so sagen die Nachbarn, die ihn besser kennen, an einem Brief an seine Kanzlerin sitzen: Er hätte gerne seine Gewissheiten wieder, stünde da drin. Schließlich habe er ihr seine Stimme zu treuen Händen gegeben. Und ob sie denn wüsste, was sie täte und warum. Ob Herr A. seine Stimme wieder findet, weiß ich nicht. Mir jedenfalls wird sie fehlen: Sie hat mich immer amüsiert..