Ringsherum geht die Kernidee des Kapitalismus kaputt: Bereichere Dich bis zur Besinnungslosigkeit, das ist gut für alle! Und während das Land noch schreckensstarr auf die Trümmer lieb gewordener Scheinerkenntnisse blickt (Wachstum ist alles, Privat ist immer besser) zeigt der Blick auf die Wahlumfragen: Während die Welt Kopf steht, bleiben die Deutschen bei ihrem alten Wahlverhalten, als sei Konrad Adenauer wieder auferstanden und riefe ihnen zu: Keine Experimente! Schon vor der offiziell anerkannten Krise hatte die SPD, ihrer zu offen asozialen Politik wegen, Prozente an die Linkspartei abgegeben, die CDU musste auch mal was abgeben, an die FDP, als sei Westerwelle nicht die in Buttercreme gegossene Krisenursache. Nur die GRÜNEN, natürlich mitverantwortlich für die sozialen Daumenschrauben der Agenda 20/10, und ohne einen Schimmer von Krisenalternative, blieben prozentual etwa dort, wo sie sich schon länger eingerichtet hatten.
Dass die Linkspartei in den Umfragen nicht von der Krise profitiert, obwohl sie als einzige Bundestagspartei diese Krise vorausgesagt hatte, lässt viele Kommentatoren in der Pose bekümmerter Ratlosigkeit auftreten, hinter der sich die Häme nur mühsam verbirgt: Einen Kassandra-Effekt sieht der Berliner "Tagesspiegel", klassische Bildung vortäuschend und sorgt sich scheinbar: "Die Deutschen laufen derzeit nicht in Scharen zu der Partei, deren düstere Prophezeiungen eingetroffen sind." Und während die TAZ ein Scheitern der Linkspartei "am eigenen Erfolg" vermutet, weiß "Die Welt", dass auch die Linke in der Krise keine Konjunktur hat. Da bleibt der "Financial Times Deutschland" nichts anders übrig, als dem selben Horn den gleichen gequälten Ton zu entlocken: "Die Ratlosigkeit wächst: Kein Massenprotest treibt die Partei nach oben, statt Aufschwung attestieren die Umfragen eine Stagnation." Genüsslich glaubt der SPIEGEL: "Die Deutschen setzen also offenbar auf Sicherheit in Zeiten der Krise."
Die "Süddeutsche Zeitung" lässt Burkhard Müller über die Allmacht des Kapitalismus sinnieren. Der sei ein Spiel aus dem man nicht aussteigen könne. Auch verdanke man ihm viel, zum Beispiel, dass "wir jeden Tag warm duschen können". Und weil diese Klempner-Analyse noch nicht reicht, erklimmt Müller die Höhen der Ökonomie: Der Mehrwert gehe zwar durch die Hände der Kapitalisten, aber er bleibe dort nicht. Deshalb teile die Klasse der Kapitalisten auch mit den Massen "das Risiko des Absturzes, wenngleich sehr viel besser gepolstert". Wenn Müller doch gleich in der selben Ausgabe der "SZ" nachgelesen hätte, wie die Polster beschaffen sind: Ein indischer Stahlmagnat hatte bisher 17 Milliarden Pfund, jetzt nur noch knappe 11, ein russischer Unternehmer sackte von 11 Milliarden auf 7. Und Müller findet: "Man kann nicht einmal wünschen, dass es keinen Kapitalismus gäbe." Weil wir dann alle nie mehr warm duschen können. Weil wir alle gemeinsam das Absturzrisiko tragen.
In den "Blättern für deutsche und internationale Politik" für den gebildeten Linken, sieht deren Redakteur Albert Scharenberg "Die Lähmung der Linken". Weil die Bundesregierung auf den alten, jüngst noch verteufelten Keynesianismus setzt, eine Position, "die zuvor exklusiv von der Linkspartei vertreten wurde." Scharenberg vermisst politische Alternativen der Linkspartei über Keynes hinaus und fordert "ein echtes Grundsatzprogramm". Im selben Heft der "Blätter" warnt der Professor für Internationale Politik, Ulrich Brand, vor einer linken Staatseuphorie und erinnert daran, dass der Staat nicht neutral ist, um dann sein Heil in der Semantik zu finden: Er plädiert dafür, die "Strategien zur Krisenbearbeitung mit dem Begriff des Postneoliberalismus zu fassen." Das wird, so ist zu fürchten, die jüngsten Gewinne der Deutschen Bank nicht in die Krankenhäuser und Schulen transferieren.
Im Entwurf des Wahlprogramms der Linkspartei finden sich Zustandsbeschreibungen des Kapitalismus, die seiner Wirklichkeit entsprechen: Schwerste Krise seit 80 Jahren, die Bedrohung der Arbeitsplätze, es wird festgestellt, dass der "gegenwärtige Kapitalismus sozial ungerecht" ist. Mal abgesehen davon, dass diese Erkenntnisse nicht so schrecklich überraschen: Wie war denn der Kapitalismus vor dem gegenwärtigen? Gerecht? Genau hier liegt das Problem der Lafontaine-Linken. Sie hat eine Neigung, die alte Bundesrepublik gemütlicher zu finden als sie es gewesen ist, immerhin war Oskar an ihr beteiligt. Aber, so sagen kluge Leute von der Linkspartei bedauernd, wie soll man über Keynes, über die stärkere Verantwortung des Staates hinausgehen, wenn es doch keine wirkliche Bewegung von unten gibt? Das hört sich so klug an, dass man fast geneigt ist zuzustimmen.
Anders als beim Mikado-Spiel verliert in der Politik nicht der, der sich zuerst bewegt. Es wird weniger ein linkes Programm sein oder ein schöner neuer Begriff für die neuen Strategien, die den schockgefrosteten Deutschen Beine für die eigenen Interessen machen wird. Man wird an Haustüren und Straßenecken mit ihnen reden müssen, unmittelbar und nicht über die Medien verfälscht. Zum Beispiel über die von der Linkspartei geforderte Millionärsabgabe. Über eine Forderung, die fast alle unterschreiben können. Denn die Unterschrift ist die kleinste Form der Bewegung. Und so fängt es an: Mit einer Ein-Punkt-Forderung, einfach, verständlich und bewegend. Weil mit einer solchen Kampagne die Schuldigen genannt werden würden. Und weil es eine wunderbare öffentliche Aufregung über populären Populismus gäbe.