Anders als bei der Boden- und der Käfighaltung ist bei der Hofhaltung die öffentliche Zurschaustellung nicht nur erlaubt sondern auch gewünscht: In wenigen Tagen wird die zeitweilige Ratspräsidentin der Europäischen Union, Angela Merkel, die Regierungschefs der Mitgliedsländer in der deutschen Hauptstadt um sich herum gruppieren und allen zeigen, wer den Hosenanzug an hat. Eine geheimnisumwitterte "Berliner Erklärung" soll verabschiedet werden, eine Erklärung, die den Weg zur Ratifizierung der EU-Verfassung ebnen soll, obwohl jeder weiss, dass heiße Luft nicht einmal dann etwas grundiert, wenn sie hoch komprimiert ist. Doch Frau Merkel, die zu Hause weder eine ordentliche Gesundheitsreform hinkriegt noch ihr Land aus den afghanischen Wirren der USA raushalten kann, ist eine außenpolitisch ehrgeizige Dame, die am Ende ihrer Präsidentschaft eine Verfassung für Europa ratifiziert sehen will, die allem möglichen gerecht wird, nur nicht denen, die in diesem Europa unterhalb der Rolls-Royce-Grenze leben und arbeiten.

Dass jeder zweite Deutsche nur ein geringes oder gar kein Vertrauen in die Europäische Union hat (Allensbach-Institut) liegt nicht daran, dass die Deutschen den Entwurf der Verfassung gelesen haben. Man schätzt die Zahl der deutschen Leser, inklusive der lobbyistischen und ministeriellen Fachidiotie, auf weniger als Zehntausend. Nicht nur, dass eine, auf knapp fünfhundert Seiten verteilte, lustfreie Sprache erst einmal überwunden werden will. Anders als in anderen Ländern, die allen Bürgern einen Entwurf kostenfrei zur Verfügung stellten, ist es in Deutschland gar nicht so einfach das Werk zu erhalten und man muss auch dafür zahlen, wenn man erfahren will, dass auf den Aalandinseln in der nördliche Ostsee nur die Einheimischen Grund und Boden erwerben können. Nun könnte man einwenden, die Inselfragen und andere Ausnahmeregelungen kämen erst in den anhängenden Protokollen vor. Doch zum einen befinden sich im Anhang auch solch wichtige Einrichtungen wie der Europäische Gerichtshof, zum anderen zählt die Kernverfassung immer noch rund zweihundert Seiten.

Schon wenn man die ständige Wiederholung der Worte "Wettbewerb" und "Marktwirtschaft" auf ein sozial verträgliches Maß runter kürzen würde, gewänne der Verfassungsentwurf an Kürze, ob er an Klarheit gewinnen würde ist fraglich. Denn in ihrer Marktorientierung ist die Verfassung geradezu unbändig ehrlich. Schon das zweite benannte Ziel der Union soll der "Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb sein". Unmittelbar danach wird als wesentliche "Grundfreiheit" die des freien "Waren- und Kapitalverkehr" benannt, so als ob der entfesselte Kapitalismus noch im Nachhinein ein Alibi in der Verfassung brauche. Damit nicht genug, wird in einer weiteren "Charta der Grundrechte" erneut beschworen, dass die Union den freien Waren- und Kapitalverkehr sichern soll, um dann in einem weiteren Artikel (II-76) die "unternehmerische Freiheit" anerkennend zu fixieren. Weil den Arbeitgebern der Verfassungserfinder offenkundig immer noch bange um eine profitable Zukunft war, musste dann im Abschnitt Wirtschaftspolitik noch zweimal hintereinander die "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" garantiert werden.

Wer nach so viel Freiheit des Kapitals nach einem Regulativ sucht, für das sich, der Praxis der Nationalstaaten entsprechend, einheitliche europäische Steuern anbieten würden, stößt auf einen lächerlich dünnen Absatz über indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer und die sollen auch nur "harmonisiert" werden wenn es "notwendig" ist. Da könnte die Verfassung auch ganz anders beginnen, zum Beispiel so: Die Nationalstaaten werden zu einem nach unten offenen Steuerwettbewerb verpflichtet. Wer mehr als dreissig Prozent Unternehmenssteuern erhebt wird aus der Union ausgeschlossen. Die Mitgliedstaaten, die keine Steuern verlangen, werden mit Unternehmensansiedlungen in Höhe von Daimler, Bayer und so weiter belohnt. Alles andere regelt der Markt. Nur logisch findet sich deshalb der Abschnitt "Beschäftigung" im Kapitel "Die Politik in anderen Bereichen" und wird präambelnd mit einer köstlichen Formulierung bedacht, die von der "Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer" schwadroniert und von der "Fähigkeit der Arbeitsmärkte", zu was auch immer, träumt. Dass der "andere Bereich", gemeinhin Arbeit genannt, mit dem Leben, der Existenz von Millionen Menschen zu tun haben könnte, das ist den Eurokraten an jenem Nachmittag, als sie in der Sitzung fragten, was denn sonst noch in die Verfassung rein sollte, einfach nicht eingefallen. Schön ehrlich wäre es gewesen, hätte man die einzige Freiheit der Arbeit als jene von Arbeit formuliert.

So viel Freiheit muss natürlich verteidigt werden. Der Verteidigungsfall findet statt, sagt der Menschenverstand, wenn man angegriffen wird. Dieser Fall kommt im Abschnitt über die "Sicherheits- und Verteidigungspolitik" auch vor, aber ganz weit hinten. Ganz weit vorne findet sich die "Mission", da fragt sich der Leser, wer denn da missioniert werden soll, wahrscheinlich Andersgläubige. Denn die "Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" und wenn das klappt, kann dann "die Union bei Missionen außerhalb der Union" auf diese kriegerischen Potenzen zurückgreifen. Es gibt wenige Staaten auf der Welt, die sowohl einen ständig wachsenden Rüstungshaushalt, als auch Angriffskriege bereits in ihren Verfassungen festlegen. Selbst die USA, die solche Sachen gerne macht, schreibt sie nicht mit Gesetzeskraft vorher auf. Dass ein solches Gefüge, das den Krieg gar nicht mehr ausrufen muss, auf demokratische Strukturen keinen großen Wert legt, versteht sich. Deshalb wird der faktische EU-Kanzler, der Kommissionspräsident, auch nicht direkt vom Parlament gewählt. Wenn es um "partizipative Demokratie" geht, also um eine, in der die Bürger etwas zu sagen haben, wird es richtig spannend, zum einen will man mit den "repräsentativen Verbänden" reden. Auch die verfassungsmässige Verankerung des Lobbyismus ist ein wirkliches Novum. Zum anderen können, dem Verfassungstext entsprechend, jene "Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million" beträgt, "die EU-Kommission auffordern", "geeignete Vorschläge zu ergreifen". Verfassungskenner nennen so etwas eine Umleitungsdemokratie: Wohin man damit gelangt weiß keiner.

Die Franzosen und die Niederländer hatten in Volksabstimmungen die schöne Gelegenheit, zu dieser EU-Verfassung Nein zu sagen. Den Deutschen will man eine solche Entscheidung nicht zumuten. Obwohl wir, würde die EU-Verfassung ratifiziert werden, eine Reihe von Grundgesetz-Postionen aufgäben. Es findet sich auch kein mutiger Verfassungsrichter, der nach einer Volksabstimmung über den Beitritt Deutschlands zu einem neuen Land, zu einer neuen politischen Ordnung fragen würde. Was sich immer wieder findet ist eine Medienlandschaft, die der Dame Merkel provinziell staunend attestiert, dass sie mit den Polen, den Briten, den USA und wem auch immer charmant umgehen kann. So wird es auch in den nächsten Tagen sein, wenn die Chefs der siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Deutschen Historischen Museum zusammenkommen, um jene "Berliner Erklärung" zu verabschieden, die man dem gemeinen Volk lieber erst zeigt, wenn die Chefs sie abgenickt haben werden. - Die letzte geschichtsnotorische "Berliner Erklärung" wurde 1909 verfasst. Mit ihr distanzierte sich die lutherische Kirche von der "Pfingstbewegung", einem religiösen Zweig, dessen Herkunft in der Erklärung als "nicht von oben" (also von Gott) sondern als "von unten" (also vom Satan her) definiert wurde. Da können wir aber froh sein: Auf dem Sondergipfel der europäischen Staatschefs wird alles schön von oben organisiert werden. Und dass nichts von unten aufkommt, dafür sorgt dann die vorliegende EU-Verfassung. Wenn sie denn ratifiziert wird.