»Kinder, weckt den arbeitslosen Vater nicht, er ist besoffen«. Ein solch elegantes Beispiel für einen Aspekt der Debatte über die überraschende Entdeckung der Unterschicht konnte natürlich nur der »FAZ« einfallen. Das Blatt, das auf der Seite eins die Devise »Zeitung für Deutschland« führt, lässt ihren Schreiber diesen Anspruch weiter erläutern. Zynisch wird der Wert der Unterschicht für die Gesellschaft festgehalten: Sie seien die Konsumenten der Volksmusik, kurbelten die Handy-Industrie an und den Umsatz der Tattoo-Buden, förderten, mit den Jugendbanden zum Beispiel, die Geselligkeit im Lande.
Der Schreiber natürlich besucht nur Klassik-Konzerte, legt seine Haut ausschließlich in ayurvedische Bäder der besseren Wellnesshotels und schlürft seine Austern gemeinsam mit den alten Freunden aus dem Internat oder dem Studium der Wirtschaftswissenschaften. Dass man sie eine verdammte Bande von Kriegsgewinnlern nennen könnte, Kombattanten eines unerklärten Krieges von Oben gegen Unten, einer Schlacht, von der die Schreiber nur hoffen dürfen, dass sie zeitweilig zu den Gewinnern zählen, denn wirklich »oben« sind sie natürlich auch nicht, das fällt dem Karriere-Pack nicht ein.
Ein besonders gelungenes Beispiel solch sozialer Bewusstlosigkeit liefert Herr Heithecker in der »Welt«. Der Hebel zur Besserung läge »in der Wirtschaft« meint der Kommentator und während er schreibt hält der die Augen verschlossen und die Daumen gedrückt. Die Augen verschließt er davor, dass der Springer-Verlag erst die Fusion von »Morgenpost« und »Welt« mit erheblichem Arbeitsplatzabbau durchgeführt hat. Und die Daumen drückt er sich, dass ihm bei der Rationalisierungsfusion von »Welt« und »Welt am Sonntag« die Entlassung erspart bleiben wird.
Das nackte Wort Entlassung mag der »Welt«-Autor nicht auf das Papier bannen: »Wo liegt die wirtschaftliche Perspektive für all jene, deren Erwerbsbiografien in Zeiten enormer wirtschaftlicher Anpassungen notwendigerweise wirtschaftliche Brüche erleben?« Solch okkultes Zeug muss in einem ebenso licht- wie geistlosen Raum geschrieben worden sein, vermutet wird, dass Heithecker seine geschmeidige Anpassung notwendigerweise im Arsch der Verlagsleitung vorgenommen hat, um Brüche in seiner Erwerbsbiografie vorauseilend zu vermeiden.
Aus der warmen, aber ziemlich gekrümmten Position eines Springer-Festangestellten faselt der »Welt«-Autor vom »rigiden Kündigungsschutz«, der die Wirtschaft an Neueinstellungen hindere, will vor »Illusionen« warnen, es gäbe noch »dauerhafte Arbeitsplätze« und entdeckt die »legendäre Produktivitätspeitsche«, die, er weiß natürlich nicht von wem, »durch Werkhallen und Bürotürme gereicht wird«. Dass der Springer-Konzern Anfang des Jahres »Pro 7/Sat 1 erwerben wollte und jetzt überlegt, ob er das Bezahlfernsehen »Premiere« kaufen soll, das hat mit der »Produktivitätspeitsche« natürlich nichts zu tun. Das Kleingeld für die Medien-Groß-Einkäufe hat Friede Springer sich sicher in ihrem Nebenjob als Klofrau erspart. Oder wie lautet die Berufsbezeichnung für jemanden, der sein Geld mit einem Abort namens »Bildzeitung« verdient?
Kommentatoren der »Süddeutschen Zeitung« fiel ein solch offenkundiger Unfug, wie er in der »Welt« verbreitet wird, natürlich nicht ein. Feinsinnig darf Professor Heinz Bude zur Debatte feststellen, dass es »eine Gruppe von Benachteiligten gibt« die »mit teilweise für den Einzelnen unbeeinflussbaren Wenden in der Personalpolitik von Unternehmen zusammenhängt«. Man kann die spitzen Finger die, bei der Behandlung des Unterschichten-Themas, in Budes weißen Handschuhen stecken, förmlich sehen. Deshalb kann er auch nicht schreiben, dass die Unterschichtler, und das sind beileibe nicht nur jene acht Prozent die von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgemacht wurden, vom System ausgestoßen wurden. Nein, diese Leute haben »ein verfestigtes Exklusionsempfinden«, das muss so etwas wie gefühlte Arbeitslosigkeit sein.
Während auch in der Mensa der Uni Kassel, jener Einrichtung bei der Heinz Bude angestellt ist, just in diesen Tagen zu lesen gewesen wäre, dass es zu wenig Ausbildungsplätze gibt, mag uns der Kommentator an die »ausbildungsmüden Jugendlichen« erinnern. Das sind nun keineswegs solche, die am Ende eines harten Ausbildungstages müde nach Hause kommen, sondern die, deren Eltern oder gar Großeltern bereits arbeitslos sind und deshalb nicht mehr glauben, dass die Gesellschaft einen Arbeitsplatz für sie bereit hält.
Ein sprachlich fein geklöppelter Vorhang senkt sich über die Wirklichkeit, wenn Bude entdeckt: »In gewisser Weise berühren sich die Irritationen in der `Generation Praktikum´ mit den Desillusionierungen der Heranwachsenden, die von Anfang an keine Perspektive sehen.« In völlig gewisser Weise darf man nach solchen Sätzen jede Illusion über intellektuelle Redlichkeit verloren geben.
Die viel zitierte Studie der SPD-Stiftung hat neben dem Debattenauslöser `Unterschicht´ mehr zu bieten: Über 80 Prozent der Deutschen empfinden `Soziale Gerechtigkeit´ für sich als bedeutend: Als sehr wichtig (56 %) oder immerhin wichtig (27%). Mehr als 60 Prozent sind durch die zur Zeit zu beobachteten, gesellschaftlichen Veränderungen verängstigt. Das ficht unsere drei Meinungshinrichter in den genannten Blättern, die alle drei als Qualitätszeitungen gelten, sich selbst auch gerne Entscheider-Medien nennen, natürlich nicht an. Sie glauben, dass sich ihre Lage nie von der »des Handelnkönnens« in die »des Erleidenmüssens verwandelt« (Bude). Warum sollten sie dann die Seiten wechseln?