In der Wohnung gegenüber wurde eingebrochen. Ruck-zuck die Tür ausgehebelt, dann rein und schnell wieder raus. Bei der alten Dame, die da wohnt, konnte nicht viel zu holen sein. Unser Kiez ist nicht reich. Im Haus lebt auch ein Hartz IV-Empfänger. Der Rest: Untere Mittelschicht. "Aber", sagt der Kripo-Beamte, der mich fragt ob ich denn nichts gehört habe, "die Täter besitzen noch weniger, für die ist ein Flachbildfernseher oder sowas ein echter Gewinn". Ich habe nichts gehört, weil bei mir seit Tagen laut die Nachrichten laufen: Die Welt hält den Atem an, der große Crash wird erwartet. Die Zahlungsfähigkeit der USA wackelt, die Rettungsschirme der Euro-Zone haben faustgroße Löcher. Doch die Banken brauchen noch mehr Geld. Im Fernsehen sagt ein Bank-Mann mit geöltem Haar, fleischigem Kinn und schlauem Gesichtsausdruck: "Hauptursache ist die generelle Unfähigkeit der Politik, eine wirkliche Lösung für die Staatsverschuldung zu finden."
Über die Unfähigkeit der Politik sind sich viele einig: In Israel demonstrieren seit Tagen Hunderttausende für Gerechtigkeit. Dafür, dass der Staatshaushalt nicht nur den Militärapparat füttert und Geld für die Siedler im Palästinensergebiet rausschmeisst. Gegen schwere Mängel im Bildungs- und Gesundheitssystem. Für bezahlbare Mieten. Vorgestern war es der Kasbah-Platz in Tunis, gestern der Tahir-Platz in Kairo, heute ist es der Habima-Platz in Tel Aviv. Und wer glaubt, die Empörung in den Städten Spaniens sei vorbei, der irrt: Genug! rufen die Protestierenden. Es reicht. Sie haben die Schnauze voll von einem System, das einigen Wenigen alles gibt und der Mehrheit nimmt: Über soziale Kürzungen, über steigende Preise, über die Umverteilung von unten nach oben. Das System hat in allen Ländern den selben Namen: Kapitalismus.
Schon wieder redet im Fernsehen der dicke Mann von der Baader-Bank: "Wenn die Hühner keine Ruhe haben, legen sie keine Eier" sagt er. Die Regierungen, meint er, sollen gefälligst für Ruhe sorgen, damit die Börse wieder goldene Eier legen kann. Der Goldpreis ist um 14 Prozent gestiegen. Ob die nette Dame von gegenüber wohl ein paar Münzen unter der Matratze hatte? Die Zahl der Wohnungseinbrüche wächst Jahr für Jahr. In Berlin liegt sie so bei 10.000 jährlich. "Mehr als Hartz IV holen die bei so einem Bruch allemal raus", meint der Kripo-Beamte. Das Risiko ist hoch: Einbruchdiebstahl kann zwischen sechs Monaten und zehn Jahren bestraft werden. Das Risiko der Banken will die Europäische Zentralbank unbedingt minimieren: Sie druckt Geld, kauft damit die Anleihen der Krisenstaaten auf und sichert so den Geldverleihern ihre Rendite. Trotzdem brechen die Börsenkurse ein. Die Stimmen der Wirtschaftsexperten in Funk und Fernsehen werden immer angestrengter.
Vor zwei Jahren haben die großen Industriestaaten Idioten-Summen in die Banken investiert, um die Finanzwirtschaft nach der Lehmann-Pleite zu sichern. Neue, schärfere Regeln, um die Banken unter Kontrolle zu bekommen? Verbot der Glücksspiel-Unternehmen namens Hedge-Fonds? Nichts davon. Das damals verpumpte Geld fehlt jetzt in den Haushalten. Robert Halver von der Baader Bank reckt auf einem dpa-Foto seinen Daumen in die Höhe: Nachdem die Börsenkurse gestern um rund vier Prozent abgesackt waren, konnten sie heute um 0,7 Prozent anziehen. Dank der Europäischen Zentralbank und ihrer flinken Notenpresse. Doch noch ist die Gefahr der "Double-Dip-Rezession", der Rezession nach der Rezession, des zweifachen wirtschaftliche Abschwungs, nicht vorbei. Ob die zumeist jungen Leute in London, Liverpool oder Birmingham, die auf den Straßen sind, Häuser anzünden und Läden plündern, von der Double-Dip-Rezession wissen? Wohl kaum: "Das ist der Aufstand der Arbeiterklasse. Wir verteilen den Wohlstand um“, sagte der 28-jährige Bryan Phillips aus London.
"Big Society" nennt die britische Regierung ihre Sparorgie, fast 100 Milliarden Euro sollen bei Sozialleistungen und öffentlichen Einrichtungen eingespart werden. In Manchester beschloss der Stadtrat in der letzten Woche, alle öffentlichen Toiletten – bis auf eine – zu schließen. "Großer Scheiß" nennen die Leute auf der Straße das Big-Society-Programm. Bei der "Schlacht um London“ sind bisher 450 Menschen festgenommen worden. "Die Zellen sind voll" sagt ein Sprecher der Polizei. Auch in den USA sind die Zellen gut gefüllt: Von den 288 Millionen Bürgern der USA sitzen etwa 2.2 Millionen Menschen hinter Gittern. Das ist Weltspitze. Und natürlich sind es die Armen, die einsitzen. Seit Bill Clinton gilt das Prinzip "Three strikes, you’re out." Wer zum dritten Mal bei einer Straftat geschnappt wird, gleich bei welcher, auch wenn es nur der Diebstahl eines Schokoriegels ist, wird automatisch zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine ganze private Gefängnisindustrie hat sich um dieses sonderbare Rechtssystem gebildet, sie verdient Milliarden Dollar und sie boomt.
"Es wird allerorts nur über Schulden gesprochen, etwa wie man sie in Europa in den Griff bekommt oder über ihre Erhöhung in den USA, doch das Thema wirtschaftliche Perspektiven fällt dabei völlig herunter", sagt der Dicke von der Baader-Bank. Und recht hat er. Das Rezept liegt buchstäblich auf der Straße: Mehr Armut schafft mehr illegalen Vermögensausgleich, der wiederum schafft mehr verurteilte Straftäter, die brauchen mehr Gefängnisse und schon hat man eine neue "wirtschaftliche Perspektive". Die Gefängnisindustrie kann die Wirtschaft retten. Es muss nur noch mehr geklaut werden. Das klappt bestimmt.