Sie werden sich erinnern: Faul seien die Deutschen, sagten die Marktbeobachter, soziales Fett hätten sie angesetzt. Man könne sie nur mit der Hartz-IV-Peitsche an die Arbeit treiben. In der Zeit globaler Wettbewerbe sollten sie gefälligst länger arbeiten und auch für weniger Geld. Wer zaghaft einwandte, dass ja auch die Arbeitsproduktivität der Deutschen um ein Erhebliches höher läge als zum Beispiel die der Chinesen, dem wurde klar gemacht, dass es die Maschinen wären, die mehr und besser produzierten und die gehörten nun mal nicht denen, die sie bedienten. In diesen Tagen ist zu erfahren, dass die Deutschen schon lange länger arbeiten als viele andere.

Die EU-Agentur für Arbeit, kaum einer besonders linken Neigung verdächtig, stellt fest, dass die Deutschen im europäischen Vergleich einen Spitzenplatz in der Wochenarbeitszeit einnehmen: Mit 41,1 Stunden liegen sie damit weit über Frankreich (37,7 Wochenstunden), oder Dänemark und Italien. Das ist der Aufschwung in der Merkelei: Mehr Überstunden, weniger Tarifvertrag. Wer sich die Spitze der Arbeitszeitparade ansieht, der findet dort, neben Bulgarien und Tschechien, das von den Neoliberalen so gepriesene England. Bei Leuten wie Westerwelle oder Müntefering ist das Gedächtnis ja meist schlecht, deshalb muss man sie an ihre Lobpreisungen erinnern - sei es über den Thatcherismus oder den Blair-Kult - die sie über England als Muster für den neuen deutschen Weg ausgossen. Inzwischen ist England ein Muster ohne Wert: Krise, Armut und zerrüttete Verhältnisse könnte Großbritannien zur Zeit am besten exportieren, wenn diese Waren denn jemand haben wollte.

Nach dem Aufstieg der Agenda 20/10-Kämpfer Steinmeier und Müntefering an die Spitze einer einstmals sozialdemokratischen Partei, erscheint es doppelt sinnvoll, eine weitere Lüge zu besichtigen: Die Deutschen verdienen zu viel, erzählten Alt- und Neuliberale übereinstimmend. Doch während die Löhne in Ländern wie Frankreich und England in den letzten acht Jahren kräftig angestiegen sind, sagt das Statistische Bundesamt, liegt die Teuerungsrate in diesem Jahr in Deutschland erneut über der Lohnsteigerung. Für deutsche Arbeitnehmer enthält diese Meldung keine Neuigkeit: Dass man weniger Lohnprozente bekommt, als man an Inflationsrate zahlen muss, mit diesem Zustand leben sie geduldig schon seit Jahren. Genau hier ist die Hartz-IV-Peitsche erfolgreich: Wenn ich noch einen halbwegs bezahlten Arbeitsplatz habe, sagt sich der Durchschnittsdeutsche, mucke ich lieber nicht auf. Wer will schon von 350 Euro monatlich leben?

Wenn sie es wenigstens könnten, die Heilsprediger des Marktes, der Privatisierung und des kapitalistischen Glücks! Wenn sie auch nur die Klassiker des Privateigentums, die Banken, sicher durch die Krise brächten. Aber genau die sind die Hauptverursacher des weltweiten Desasters. Ihre Gier, ihre Maßlosigkeit und ihre Komplizenschaft mit den Spitzen der Politik hat die Welt an den Rand des ökonomischen Niedergangs getrieben. - "Siehe sprach der Herr, der Besitz ist mein, ich habe, also verfüge ich. Rechenschaft muss ich nicht ablegen, denn wer hat, dem wird gegeben und wer nichts hat, der ist selber schuld". Dieser Auszug aus dem Nachtgebet eines Besitzers steht zwar nicht im Grundgesetz, beschreibt aber seine Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, deren Auswirkungen immer unwirklicher erscheinen.


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Sie haben einen bundesdeutschen "Durchschnittsarbeiter" als Gegegenstand Ihrer "Merkelei". Aber könnte es sein, dass es "den Deutschen" als Arbeitnehmer gar nicht gibt? Viel mehr einen durchschnittseuropäischen Westarbeiter und einen...

Sie haben einen bundesdeutschen "Durchschnittsarbeiter" als Gegegenstand Ihrer "Merkelei". Aber könnte es sein, dass es "den Deutschen" als Arbeitnehmer gar nicht gibt? Viel mehr einen durchschnittseuropäischen Westarbeiter und einen chinanaaffinen Ostler? Ist die Saldo-Spitze also nur Ausdruck immenser Verwerfungen im Inneren?

Der Osten kennt andere Zahlen als der Westen: Stundenlöhne von 3,58 Euro oder 6,69 Euro für einen Facharbeiter: In Thüringen werden nach Angaben des DGB im Bundesdurchschnitt die niedrigsten Löhne gezahlt.

Wer wenig Geld verdient, soll wenigstens viel arbeiten: Mit 1422 Arbeitsstunden sind erwerbstätige Thüringer im Durchschnitt 100 Stunden im Jahr länger tätig als in Westdeutschland. Doch nirgendwo sonst in der Bundesrepublik verdienen die Menschen so wenig wie hier, wo der durchschnittliche Bruttostundenlohn mit 14,91 Euro um 1,12 Euro unter dem ostdeutschen Niveau liegt und 6,07 Euro unter dem westdeutschen, informierte kürzlich der Deutsche Gewerkschaftsbund. Laut Statistik haben Thüringer Arbeitnehmer im Monat durchschnittlich 1780 Euro brutto im Geldbeutel, das sind am Jahresende 1256 Euro weniger als im ost- und 6544 Euro (40,7 Prozent) weniger als im westdeutschen Schnitt.

Arm trotz Arbeit: In Thüringen sind mehr als 55 000 der knapp 200 000 Empfänger von Arbeitslosengeld (ALG) II erwerbstätig, 27 000 davon in Vollzeit, so Ina Leukefeld von der Linksfraktion. Christel Semmisch von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten (NGG) berichtet von Stundenlöhnen von 5,30 Euro in einer Erfurter Nudelfabrik, 6,96 Euro pro Stunde für einen Facharbeiter in einem Süßwarenbetrieb in Pößneck oder 3,58 Euro im Bäckerhandwerk.

Dass Arbeitgeber so schlecht zahlen können, ist auch eine Folge der Hartz-Gesetze, mit der die damalige rot-grüne Bundesregierung den Niedriglohnsektor enorm ausgeweitet hat und Arbeitnehmer unter Druck setzt.

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Rüdiger Becker
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Es gibt sie beide: Den Arbeiternehmer West, der immer mehr Überstunden macht mit Lohnzuwächsen, die nicht einmal die Inflationsrate ausgleichen. Und den Arbeitnehmer Ost, der noch weniger verdient.

Uli Gellermann
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