Man ist nicht alt in diesem Land. Man ist jung geblieben, in den besten Jahren oder plus, fünfzig plus. Das klingt wie Bond, James Bond und ist auch eine ähnliche Camouflage. Denn Alter ist ein Makel und, bei Beobachtung der Medien um den 9. November herum, Erinnerung, ein dem Altern geschuldetes Vermögen, eine Schande. Das deutsche Mediengedächtnis reicht nur noch bis 1989, dem Fall der Mauer, zurück. Dass es in der deutschen Geschichte noch zwei andere November von Bedeutung gab, ist ihm kaum erinnerlich.

Schon mein Großvater, ein rheinischer Lebensmittelhändler, litt unter seinem Gedächtnis. In völlig unpassenden Zeiten, in den 50er Jahren, erzählte er seinen Enkeln, wie er in einem November zurückkam, aus Flandern. Weiß konnte sein Gesicht werden von der Wut, die ihn bei der Erinnerung an schlammigen Schützengräben packte. Von der Angst vor dem täglichen Tod in den Frontlinien die einander gegenüber lagen, die Franzosen und die Deutschen, im mörderischen Spiel gefangen. Ein bleiches, verbissenes Gesicht kam über ihn, wenn er vom Hochmut der Offiziere erzählte, deren Rotweinflaschen in der Fourage und deren saubere Taschentücher inmitten von all dem Dreck, den Läusen und dem Eiter.

Als er dann dann nach Hause kam, der Soldat der 5. Ulanen, ursprünglich eine Truppe mit Lanzen zu Pferd, längst auf das Maschinengewehr und die Eisenbahn gekommen, da war es November 1918 und man hörte aus Kiel Unerhörtes: Die Matrosen hätten gemeutert, die Soldaten bildeten Räte, als ob der einfache Soldat irgend jemandem hätte Rat geben können. Mein Opa fand das rückblickend immer noch bedenklich: Gegen die Offiziere, gegen den Kaiser, gegen die Regel, das konnte ja nicht gut gehen. Immerhin war dieser November der eigentliche Gründungsmonat der ersten deutschen Republik: Der Kaiser durfte in Holland Holz hacken gehen, es gab die ersten echten Wahlen und die erste SPD-Regierung.

Vom zweiten wichtigen November wußte er zu sagen, dass seine Ereignisse auf nichts Gutes hindeuten. Der ehemalige Ulan hatte gerade einen neuen Laden aufgemacht, die Gegend war besser, die Kundschaft auch, da schlugen sie in der Nachbarschaft Fensterscheiben ein. Die großen, teuren Fenster von Ladengeschäften. Es war die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Und der immer noch junge Lebensmittelhändler kannte die Leute, deren Fenster von grölenden Uniformierten eingeschlagen wurden. Nach dem nächsten Krieg konnte er dem Enkel Gesichter von denen zeigen, die gegrölt hatten. Die mit den kaputten Fenstern waren weg.

Von meinem Großvater habe ich das gute Gedächtnis geerbt. Das ist kein Vorteil. Denn man erinnert sich und vergleicht: Die Bilder vom Untergang der DDR, die jetzt auf allen Sendern zu sehen sind, von der erbarmungslosen Staatsmacht, die auf Demonstranten einknüppelt, Leute über die Straße schleift und auf LKW´s verfrachtet. Die Missachtung jeden Bürgerrechts durch uniformierte und nicht uniformierte Polizei. Kein Zweifel: Die Drohung hinter der Gewalt die auf Bildern zu sehen ist, war gewaltig. Auf so manchen hätten Jahre in Gefängnissen gewartet und Gefängnisse der DDR waren nicht komfortabel.

Und doch neigen die Bilder in meinem Kopf hartnäckig dazu, sich auf die Fernsehbilder zu legen. Da war diese Anti-NPD-Demonstration in Recklinghausen, Ende der 60er, als die berittene Polizei ihre Gäule in die Menschenmassen zwang. Da waren die in den 70er Jahren bewährten Kessel der Hamburger Polizei: Demonstrierende wurden so lange von ausreichend Polizisten umringt, bis die zumeist jungen Leute sich in die Hose machen mussten, bis sie vor Angst und Schwäche umfielen oder hysterisch wurden. Das hat historische Kontinuität. Meine Tochter hat mir von einem solchen Kessel aus dem Hamburg dieses Jahres berichtet. Die Knüppel-Orgien des Frankfurter Polizeipräsidenten Panitz in den 70ern gegen das "langhaarige Gesocks" bleiben unvergesslich. Wer in Mutlangen dabei war oder an anderen Orten westdeutscher AKW-Präsenz, der hat andere Erinnerungen an die Polizei als der Falschparker. Ein westdeutsches Poesiealbum voller Bilder, die kaum im TV zu sehen waren. Sind die Kameras zu Hause geblieben, hatten die Redakteure Urlaub?

Urlaub von der Geschichte nimmt heute die Intendanz, die Chefredaktion. Die TV-Dokumentationen erinnern an die DDR, die Zeitungsseiten wissen von den anderen Novembern ebenso wenig wie die Radiosendungen. Ein deutscher Herbst, von Nebeln verhangen, ungenau. Vergangenheit wird im Osten bewältigt, wo auch sonst. Und historische Analyse, früher zuweilen auf "arte" zu sehen, weicht auch dort langsam den Soaps über Schönheitssalons, die früher nur bei den Privaten schrillen durften. Wer nicht weiß wo er herkommt, der kann nicht wissen wo er hin geht. Vielleicht ist der Alzheimer der Medien nur der freundliche Vorhang, der uns von einer Zukunft trennt, die ungemütlicher sein wird als die Gegenwart. Der begonnene Krieg in den französischen Vorstädten hat soziale Ursachen. Die deutschen Vorstädte sind nur um ein weniges besser.

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