Es waren schreckliche Tage, damals, als die regimetreue Angela M. mit ansehen musste, wie ihre DDR zusammenbrach. Sie hatte sich eingerichtet in der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die gemütliche Wohnung, die sie mit Joachim S. teilte, der sichere Arbeitsplatz im Zentralinstitut für physikalische Chemie in Adlershof, die Wochenendbesuche der Familie in Templin, das alles sollte enden? Im November 1989 klingelte ihr Telefon im Institut: Ein Egon K., den sie in ihrer FDJ-Zeit mal kennen gelernt hatte, war am anderen Ende der Leitung. Egon hatte Karriere gemacht, erst als Chef der DDR-Jugendorganisation, dann als Chef der allmächtigen SED. Aber jetzt, wo "unsere Menschen" wie er am Telefon sagte, sogar auf dem Alexanderplatz für eine andere DDR demonstrierten, müsse das "Projekt-M" umgesetzt werden.
Angela M. war nicht überrascht, als Egon sie in eine konspirative Wohnung auf der Berliner Fischerinsel bestellte. Nur den Mann, den ihr Egon dort vorstellte, den Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, den hatte sie dort nicht erwartet. Zwar war er ihr manchmal bei ihrem Vater begegnet, denn Schnur war Synodaler der evangelischen Kirche gewesen und ihr Vater spielte in der kirchlichen Bildungsarbeit keine kleine Rolle. Doch ihn jetzt, hier, beim heimlichen Treffen mit dem Generalsekretär der SED zu sehen, das verwunderte sie doch. Egon kam schnell zur Sache: Man brauche in diesen schweren Tagen eine Auffangstelle, die DDR sei am Ende und sie, Angela sei die letzte Hoffnung für ein Projekt, dass später im vereinigten Deutschland zum Überleben des Sozialismus führen müsse. Über den Umweg einer Bürgerbewegung, die Schnur gerade gründe, den "Demokratischen Aufbruch", solle Angela sich in die herrschende Partei der BRD einschleichen, die CDU, um dort erst als "Schläfer" zu überleben und später diese eigentlich bürgerliche Partei von innen zu zersetzen und sie zum Transmissionsriemen für den Sozialismus im vereinten Deutschland zu nutzen. Schnur verschwand später aus dem Leben der M. im dichten Nebel der Stasi-Aufklärung.
Warum ausgerechnet die CDU, fragte Angela verwundert, wäre da die SPD nicht geeigneter? Statt einer direkten Antwort las Egon ihr mit seiner dröhnenden Stimme aus einer alten Broschüre vor: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen." Das, erklärte Egon K., sei aus dem Ahlener Programm der CDU von 1947. Und jetzt sei die Zeit langsam reif, dieses Programm umzusetzen. Sie solle das Projekt "Mädchen" vorantreiben, sie hätte ein so unschuldiges Gesicht und einen Tarnhaarschnitt, unter dessen Zipfeln niemand einen teuflischen Plan vermuten würde. Kurz kämpfte Angela M. mit den Tränen, dann legte sie die Hand zum Gruß an ihre Frisur und meldete: "Allzeit bereit, immer bereit" und begann ihren Marsch durch die Institutionen.
Was folgte, ist bekannt: Sie wurde als erste geschiedene evangelische Frau CDU-Generalsekretärin, räumte dann auf ihrer Strasse zur Macht alle Konkurrenten - von Stoiber über Friedrich Merz bis zu Roland Koch - aus dem Weg, täuschte mit ihrem Beifall zum Irak-Krieg sogar Bush Junior, der sie für eine verfolgte Oppositionelle aus der kommunistischen Diktatur hielt, und hat als Bundeskanzlerin in den letzten Monaten alles getan, um den Sozialismus in der Bundesrepublik voranzutreiben. Angefangen mit dem Ausstieg aus der Atomenergie, über die Abschaffung der Wehrpflicht, bis zum bevorstehenden Mindestlohn, war ihr kein konservativer Grundwert mehr heilig. Nur selten trifft sie noch Egon, ihren Führungsoffizier. Doch manchmal, im Dunkel der Nacht, wenn die Tür ihres Hauses am Berliner Kupfergraben schauerlich quietscht und der dort stationierte Polizist sich schamvoll abwendet, huscht der Schatten des K. aus dem nahegelegenen, düsteren Restaurant "Pergamonkeller" in die Wohnung der M.
Vor der quälend gewendeten CDU liegt wieder einmal ein Parteitag in Leipzig. Damals, auf dem Leipziger Parteitag im Jahr 2003, maskierte sich die M. noch mit einem Programm für eine Steuerreform zugunsten der Reichen, der Abschaffung des Solidarprinzips der Krankenkassen und der Absenkung des Rentenniveaus. Jetzt, auf dem Parteitag Mitte November, wird das "Projekt Mädchen", unter dem Slogan "Zurück zu Ahlen 47" folgenden Programmpunkt durchsetzen: "Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert." Ob Egon K. als Ehrengast eingeladen wird, ist nicht bekannt. Doch die Sozialistische Republik Deutschland wird ihren Lauf nehmen.