Das hat es seit 30 Jahren nicht mehr gegeben: Dreizehn Filmemacher versuchen sich an einer Momentaufnahme des Landes, in dem sie leben und arbeiten. "Deutschland im Herbst", jener Kollektiv-Film, der nach dem Tod der ersten RAF-Generation ein Land in Hysterie zeigte, ist Geschichte. Der neue Episoden-Film spielt in einem Land der Erstarrung: Die Krise, von der noch nicht alle erfasst sind, bewegt bisher nur die Medien. Die Leute, die in diesem Land wohnen und, wenn sie denn noch Arbeit haben, arbeiten, wirken wie schockgefrostet. Der Episodenfilm "Deutschland 09", der über "Die Lage der Nation" handelt, macht uns mit einem Deutschland vertraut, dass dringend in Bewegung geraten sollte.

Es ist der Regisseur Wolfgang Becker, der in seinem Elf-Minuten-Beitrag Deutschland als ein riesiges, verfallenes Krankenhaus zeigt. Als eine Station der Reform-Therapie, mit der die Patienten solange behandelt werden bis sie sterben. Geplatzte Subventionsblasen werden in Szene gesetzt, sozialverträgliches Frühableben gefordert, eine Horde zynischer, nichts wissender Ärzte redet lieber über ihr Golfspiel als über ihre Verantwortung und wir wissen sofort wer gemeint ist. Becker malt das alles in düsterem Licht, schafft gewaltige wie auch gewalttätige Bilder und legt ein Tempo vor das dem Ernst der Lage angemessen ist. Manchmal nimmt er sich ein wenig Zeit für Sarkasmus, wenn er zum Beispiel einen Patienten mit dem Hitler-Gruß-Krampf zeigt: Der wird rhythmisch geohrfeigt.

Im Presseheft, in der begleitenden Film-Beschreibung zu Hans Weingartners Beitrag, steht etwas das so simpel ist, dass es kaum in den deutschen Medien auftauchen kann: Wir haben einen Innenminister, der noch vor wenigen Jahren einem Waffenhändler einen Koffer mit 100.000 Mark in bar übergeben hat. Mit diesem Satz im Kopf wird Weingartners Film noch besser, noch bitterer, als er ohnehin schon ist. Der kurze Spielfilm zeigt den realen Fall des Andrej Holm. Der Mann wurde ein Jahr lang, ohne ein justiziables Ergebnis, bespitzelt und dann "vorbeugend" verhaftet. Es wurde kein Beweis für den Vorwurf Holm sei "Mitglied einer terroristischen Vereinigung" gefunden. Statt dessen verfolgte der Schäuble-Apparat Hunderte in Holms Umgebung. Unzählige Daten, Telefonate, Internetnutzungen und Gespräche wurden gesammelt und werden weiter gehortet. Was in der aktuellen Berichterstattung nicht zu lesen war und was der Film anrührend nachliefert: Wie die ungerechtfertigte Denunziation bis ins Private wirkt: Verstörend.

Dem Staat, der viel Geld zur Überwachung seiner Bürger einsetzt, fehlt es, wenn er seinen Kindern die tägliche Mahlzeit sichern soll. Das zeigt die Arbeit von Sylke Enders, die eine dieser scheinobjektiven, zu gut verdienenden Fernseh-Journalisten zeigt, eine bessere Dame, die in einer Suppenküche auftaucht, um den allfälligen TV-Bericht "Armut gibt´s auch" zu fertigen. Der großartige Schauspieler Karl Markowics stellt in diesem Film einen Sozialarbeiter dar, der, angesichts des Elends das er zu verwalten hat, beinahe verstummt. Wie soll auch die Kluft zwischen arm und reich in gesetzten Worten, also fernsehtauglich beschrieben werden? Doch Sylke Enders gelingt es, das Unsägliche in knappe, subtile Bilder und Gesten zu wandeln.

Tom Tykwer, dessen kräftiger Initialzündung wir das Gemeinschaftswerk zu verdanken haben, legt einen sonderbar kalten Film vor. Einer der globalen Verkäufer (Benno Fürmann), reist durch eine kenntliche, immer wieder reproduzierte Welt. Das immer gleiche Hotel, überall die gleichen Einkaufsstrassen, immer und immer wieder die Läden von "H & M", von "Bennetton" oder "Starbucks". Die Meetings scheinen sich unaufhörlich zu wiederholen, zwanghaft sammelt der Mann die kleinen Flaschen und Packungen, die man in den vorgeblich besseren Hotels auf den Waschtisch gestellt bekommt. Ganz sicher wollte Tykwer eine Parabel fertigen. Aber über was?

Natürlich sind nicht alle dreizehn Beiträge gleich intensiv. Doch allein Fatih Akins Erinnerung daran, dass es Murat Kurnaz gab, dass ihm Unrecht geschah und dass ein deutscher Aussenminister und Kanzlerkandidat dafür Verantwortung trägt aber nicht belangt wird, wäre die viele Mühe wert gewesen. Akin machte auf der Pressekonferenz zum Film deutlich klar, dass er dem medialen "Verschwinden" dieses Falles dringend entgegenwirken wollte. Eine andere Sorte von Klarheit erhebt sich in Hans Steinbichlers "Fraktur". Fraktur meint die Lettern, mit denen die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", bis zur Änderung ihres Layouts, ihre Kommentare titelte. Einer ihrer typischen Leser, ein Logistik-Unternehmer, erfährt diese schreckliche Neuerung morgens auf dem Klo. Und hatte die Zeitung bisher damit geworben, dass hinter ihr "immer ein kluger Kopf" stecke, wissen wir nun: Es ist nur ein großer Arsch der hinter ihr sitzt.

"Deutschland 09" entschädigt für so manchen Schrott, den man im Wettbewerbsprogramm der Berlinale hatte sehen können: Kostümfilme, Filme über die Schwierigkeiten mit dem Hauspersonal, über die tolle Welt der Mode oder darüber, wie ein Vergewaltigungsopfer mit dem Täter ins Reden kommt. Aber so lange dieses Festival zugleich die Kraft hat Filme zu präsentieren, deren Wert über den Tag hinaus gehen, deren Kunst im Hervorbringen von Wahrheit besteht, so lange ist es unverzichtbar.

NACHTRAG
In den medialen Reaktionen auf "Deutschland 09" stellt sich heraus, dass nicht wenige Journalisten, von der "Süddeutschen Zeitung" bis zu Radiokommentatoren, einen Hauptfeind gefunden haben: Hans Weingärtner und seinen Film "Gefärhder". Dem Regisseur wird vom "Chefparanoiker" bis zum "Hasskritiker", der die deutsche Wirklichkeit verzerre, eine Reihe interessanter Etiketten angehängt. Keiner dieser Injurien-Schreiber mag erwähnen, dass Weigärtners Film auf einer realen Begebenheit beruht, also deutsche Wirklichkeit nacherzählt. Das hat zum einen damit zutun, dass dann ihre Kritik ziemlich hinfällig wäre, zum andren damit, dass man sich andernfalls mit seinem Chefredakteur anlegen müsste. Denn der hatte damals, als der Fall Andrej Holm virulent war, keine große Lust ihn weiterzuverfolgen. Holm war ja links, da wird ja an den Vorwürfen des Verfassungsschutzes schon was dran gewesen sein. Dass der Bundesgerichtshof den Haftbefehl gegen Holm aufgehoben hat: Wen interessiert das schon in den Redaktionen, in denen viel Brot ausgegeben wird damit auch die richtigen Lieder gesunden werden