Nachts um elf am Berliner Ku-Damm. Dort, wo sich an der Prachtstraße die Protzgeschäfte drängeln: Kirmesklunker von Bulgari, Zuhälteruhren von Rolex, Mein-Mann-ist-reich-Kostümchen von Chanel. Und auf der Ecke: Cartier. Trotz der begonnenen Nacht ist der Laden offen. Nicht für dich und nicht für mich. Deshalb ist ein schwarz gekleideter Sicherheitsmann draussen und einer drinnen: Du kommst hier nicht rein, sagt der gestelzte Schritt des Schwarzenegger-Imitates. Gestern noch in der Gang in Neukölln, heute schon Diener seiner Herrn. In einem der vielen, elegant gebogenen Fenster eine Aktentasche. Alligatoren-Leder. Zum Preis von 24.000 Euro.
Ein paar Gehminuten weiter: Die Pariser Straße. Die heißt nur so. Zwar immer noch ansehnliche Fassaden, aber auch vor dem Supermarkt an der Pariser steht der obligate Obdachlose und bettelt. Warum er kein Hartz IV und kein Wohngeld bekomme? Habe er mal gekriegt. Dann die erste Sanktion, Kürzung, weil er keine Bewerbungen geschrieben habe. Dann noch eine Sanktion und noch eine. Irgendwann war er raus aus Hartz IV. Und warum schreibt er keine Bewerbungen? Weil er Analphabet ist. Manchmal sitzt er abends im Park und schreit: Auf die Fresse! Jawoll. Auf die Fresse! - Vier Millionen Menschen in Deutschland können weder lesen noch schreiben.
Die Krise ist ein scheues Wesen. Kein Name ziert ihr Klingelschild. Aber sie ist an allem Schuld. Wie Lawinen ins Tal stürzen oder die Oder über die Ufer tritt. Alles Katastrophen. So ist es auch mit der Armut. Sie kommt über die Menschen wie eine Naturgewalt. Im Jahr 2000 verdiente ein allein lebender Deutscher der unteren Einkommensgruppe im Schnitt noch 680 Euro im Monat, jetzt bekommt er nur noch 645 Euro. Aber immerhin wird die Gruppe Jahr für Jahr größer. Jetzt sind es schon 22 Prozent der Deutschen, 2000 waren es erst 18 Prozent. Das ist doch schön, man ist mit seiner Armut nicht mehr so allein.
Johann Rupert ist im Hauptberuf Erbe. Sein Vater hat den Richemont-Konzern aufgebaut. Sicherlich ganz allein. Der Sohn leitet den Laden heute. Zur Richemont S. A. gehören die Luxusuhren-Manufaktur Jaeger-Lecoultre, die Luxuswaffen-Manufaktur Purdey & Sons, die Luxusschreibgeräte-Manufaktur Montblanc. Und natürlich auch Cartier. Richemont setzt jährlich mehr als fünf Milliarden Euro um. Damit Johann Rupert nicht betteln gehen muss, braucht er Abnehmer für seine Waren. Denn so eine Purdey-Doppellaufflinte, handgeschmiedet, mit der klassischen Arabeskengravur "Rose and Scroll", ist erst ab 85.000 Euro erhältlich. Die wird selten von Obdachlosen gekauft.
Für Johann Rupert trifft es sich deshalb, dass der D.A.C.H.-Vermögensreport, herausgegeben von der VALLUGA AG, eine solide Steigerung der Millionäre in Deutschland verzeichnet. Die VALLUGA AG muss es wissen, sie ist eine Investmentbank und sitzt in Lichtenstein. Um mehr als elf Prozent, auf exakt 779.300 Millionäre, ist im Jahr der Krise 2009 die Zahl der Millionäre gestiegen. Natürlich geht es nur um das reine Finanzvermögen, eigengenutzte Immobilien zählen nicht. Das ist nur gerecht. Denn der Obdachlose hat ja auch keine eigengenutzte Immobilie. Die Statistik darf nicht verzerrt werden.
Wenn der Bettler vom Supermarkt des Abends auf die Idee käme, mit verzerrtem Gesicht und einem ordentlichen Knüppel in der Hand, die Vermögensverteilung zu seinen Gunsten zu ändern, würde er ein Fall für die Polizei werden. In ihrer Zeitschrift "Die Polizei" findet man betriebswirtschaftliche Tips, wenn dort über ein "rationales Kalkül" der Kriminellen geschrieben wird, und dass die bei einer Kosten-Nutzen-Analyse zur Erkenntnis kommen könnten, dass "die kriminelle Aktivität . . . noch immer als profitabel erscheint". Wie jeder Krieg kennt auch der Vermögens-Verteilungskrieg den Kollateralschaden. Man kann nur hoffen, dass es den Richtigen trifft.
Der G20-Gipfel der führenden Industriestaaten findet zur Zeit in Kanada statt. Zu seinen Themen gehört auch der Kampf gegen Armut und Kriminalität. Millionäre werden kein Thema sein.