Wer mit der Zungenspitze an einer Batterie leckt, erfährt ein leises Kribbeln: Der Strom meldet sich. Der Stromverbrauch der Industrieländer steigt in den letzten Jahren kontinuierlich. Mit ihm, so scheint es, auch der Wohlstand: Mehr Autos, größerer Wohnraum, mehr Kühlschränke und Computer, alles verlangt, unmittelbar aus der häuslichen Steckdose, oder mittelbar in der Produktion, immer mehr Strom. Wer wollte den aufsteigenden Ländern wie China oder Indien denn ihre Entwicklung verweigern, wer wollte die Zeit der Bequemlichkeiten im eigenen Land, die nächtlichen Dauer-Beleuchtung, das schnelle Surfen im Netz, die immerwährende Verfügbarkeit durch die Stand-By-Funktion, zurückdrehen?

Es sind kaum hundert Techniker, die in Fukushima den Kampf gegen die Kernschmelze führen. Eine Kernschmelze, das weiß man spätestens nach dem April 1986, als es im AKW Tschernobyl zur Kernschmelze kam, führte zu radioaktiver Verseuchung großer Gebiete, zu zehntausenden Toten, zu genetischen Deformationen und Krebserkrankungen. Für die Menschen, die in Fukushima gegen die Zeit und den Tod ankämpfen, galt bis vor kurzem eine radioaktive Belastung von 100 Millisievert als zumutbar. Der japanische Gesundheitsminister hat diese Grenze auf 250 Millisievert angehoben. Zwar haben sich die Belastbarkeit der Menschen nicht geändert, wohl aber die Regeln.

Knapp ein Viertel der deutschen Strom-Menge wird durch Atomkraftwerke erzeugt. Die erneuerbaren Energien haben einen Anteil von fünfzehn Prozent. Der Nachteil der Energiegewinnung durch Braunkohle und Steinkohle, ihr Anteil liegt zur Zeit bei über vierzig Prozent, liegt in ihrer Klimaschädlichkeit: Der CO2-Emission. Bei einer eher unwahrscheinlichen Explosion eines Kohlekraftwerkes werden allerdings die umliegende Gebiete nicht kontaminiert. Nach dem Unfall in Tschernobyl wurden 218.000 Quadratkilometer radioaktiv verseucht. Die bisher bekannten Atom-Unfälle (darunter auch der in Tschernobyl) wurden zumeist durch menschliches Versagen verursacht. Der Mensch hat sich nicht geändert. Wohl aber die Zahl der Atomkraftwerke.

"Wir wissen," sagte die Kanzlerin vor dem Parlament "wie sicher unsere Kernkraftwerke sind. Ich lehne es weiterhin ab, Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten . . . . das ist mit mir nicht zu machen." In Fukushima liegt die Strahlendosis bei knapp 300 Mikrosievert pro Stunde. Die Feuerwehrleute, Soldaten und Techniker an der AKW-Front sind also in gut drei Stunden einer Strahlenmenge ausgesetzt, die, verteilt über ein ganzes Jahr, in Deutschland als gerade noch verträglich gelten würde. Dass, je nach Verlauf der Rettungsaktion, sich die radioaktive Strahlung bis zum 250 Kilometer entfernte Tokio erstrecken könnte, mag niemand bezweifeln: Die deutsche Botschaft in Tokio ist wegen der hohen Strahlengefahr jetzt nach Osaka umgezogen. Die Entfernung zwischen dem Berliner Regierungssitz und dem AKW-Brunsbüttel beträgt nur wenig über 300 Kilometer.

Natürlich werden die alternativen Energien den AKW-Strom nicht sofort ersetzen können. Aber Einsparungen sind möglich, technischer Fortschritt ist wahrscheinlich und geringeres Wachstum ist denkbar. Nicht sparen mussten bisher die Energiekonzerne: 23 Milliarden Euro Profit waren es allein im Jahr 2009. Seit 2002 haben sich die Gewinne von Eon, RWE und EnBW versiebenfacht. Zur Zeit steigt der Yen, die japanische Währung, gegenüber dem Dollar sprunghaft. Das erschwert den Export Japans, das mindert seine ökonomischen Fähigkeiten, die schwere Krise zu bewältigen. Weil die japanischen Versicherer und Investoren dringend Geld brauchen werden, um die Schäden zu beheben, drehen die Währungsspekulanten am Yen-Kurs.

Der japanische Verkehr mag zusammenbrechen, die Stromversorgung wanken, das Beerdigungswesen seinen Aufgaben kaum noch nachkommen, aber der Finanz-Markt funktioniert. Vielleicht muss es ohne Markt gehen. Und auch ohne Merkel. Ganz sicher aber ohne die Atomindustrie. Ein leises Kribbeln meldet sich. Diesmal in den Fingern.