Die Gründungsmythen der Länder sind unterschiedlich albern: Die Deutschen haben es lange mit Hermann dem Cherusker als Gründervater versucht. Der hat den Vorteil, dass es ihn wahrscheinlich nie gegeben hat, auch die von ihm angeblich initiierte germanische Befreiungsbewegung gegen die Römer ist historisch kaum belegt. Die amerikanischen Pilgerväter, besonders radikale Puritaner, die mit dem Schiff Mayflower im heutigen Massachusetts anlandeten, gab es. Für die patriotische Geschichtsschreibung bleibt es ärgerlich, dass die späteren Vereinigten Staaten schon besiedelt waren und die Indianer schon alles möglich andere gegründet hatten. Von England wissen wir, dass die ursprünglichen, blau tätowierten Einwohner von diversen Einwanderungswellen vernichtet wurden. Auf das heutige englische Territorium könnten die Dänen einen ähnlich verbrieften Anspruch anmelden wie die Franzosen.

Der Staat Israel, dessen Gründung in diesen Tagen in unseren Medien gefeiert wird, bezieht seinen Gründungsmythos aus dem Alten Testament: In der dort beschriebenen Gegend, rund um den Jordan, hätten die jüdischen Stämme gewohnt. Heißt es. Bis zur Niederschlagung eines Aufstandes durch die Römer, etwa um 130 n. Chr., dann begann die jüdische Diaspora. Abgesehen davon, dass es für das Völkerrecht ziemlich schwierig werden würde, wenn die Mongolen ihre Ansprüche auf jene Gebiete anmelden würden, die sie einst besessen hatten, ist das Alte Testament, ein sechshundert Jahre v. Chr., in der Babylonischen Gefangenschaft geschriebenes politisch-religiöses Manifest, als Grundstücksurkunde etwa so ernst zu nehmen wie die Siegfried-Sage, wenn es um den heutigen Besitz von Burgund ginge.

Israel müsste, ginge es nach dem Verursacherprinzip, in Schleswig-Holstein liegen. Mit Hamburg als Hauptstadt. Denn das moderne Israel gründet sich auf Berge von toten Juden, die das Deutsche Reich zu verantworten hat. Erst über den millionenfachen Mord an Menschen jüdischen Glaubens und auch an solchen, die längst evangelisch waren oder nichts glaubten, aber von einer perversen Rasseideologie zu Juden gemacht wurden, erst dieses singuläre, besonders deutsche Verbrechen (man soll die tatkräftige Hilfe von vielen Ukrainern, Balten und Polen nicht zu hoch bewerten) ließ den Wunsch der Juden nach einem Schutzraum, einem eigenen Land, einem Refugium Wirklichkeit werden. Aber warum nicht in Deutschland, warum in Palästina?

Einer festen Überzeugung des klassischen Zionismus nach war Palästina »Ein Land ohne Volk« das »für ein Volk ohne Land« wie geschaffen schien. Doch zu Beginn der jüdischen Einwanderung, 1881, lebten 400.000 Muslime in Palästina, vielleicht 20.000 Juden und rund 40.000 griechisch orthodoxe Christen. Die Gegend gehörte dem türkischen, Osmanischen Reich, später ging sie in den »Mandat« genannten Besitz der Engländer über. Noch 1947, ein Jahr vor der Gründung Israels, lebten mehr als eine Million palästinensische Muslime auf dem späteren Territorium Israels und nur 580.000 Juden, sie besaßen weniger als zwölf Prozent des Landes. Das Land das die Zionisten beanspruchten, war eindeutig schon bewohnt und nach den üblichen Maßstäben gehörte es auch schon anderen. Diese anderen blieben nicht mehr lange: Im Mai 1948, dem Gründungsmonat des modernen Israel, wurden im Dorf Deir Yassin bei Jerusalem 250 alte Männer, Frauen und Kinder kaltblütig und geplant von bewaffneten Juden umgebracht. Das Massaker war das Signal für die einsetzende Massenflucht der Palästinenser, flankiert von Vertreibungen durch die israelische Armee in Städten wie Lod und Ramallah, die Yitzak Rabin später als »hart und grausam« bezeichnen sollte. Ben Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, kommentierte die Flucht der 800 000 so: »Ihre Rückkehr muss verhindert werden«. Das klappt bis heute.

Deutsche Konsumenten von Informationen über Palästina haben es schwer. Da ist zum einen die historisch gewachsene und nicht unberechtigte Demutshaltung gegenüber allem was jüdisch ist, die eigenes Denken behindert. Zum anderen gibt es einen proisraelischen Reflex in den deutschen Medien: Von den philosemitischen Grundsätzen des Springerverlags bis zur permanent Trauer tragenden Stimme der Israel-Korrespondentin des ZDF, die nur palästinensische Raketen und israelische Opfer kennt, israelische Raketen sind ihr unbekannt, also kann es auch keine palästinensischen Opfer geben. Oder wenn, dann sind sie selber schuld wie uns Ilan Mor, stellvertretender Botschafter Israels in Deutschland in der »Süddeutschen« beibringen möchte. Dass Herr Mor Partei ist, macht ihn eigentlich zu einem schlechten Zeugen. Aber da er eine typische und weit verbreitet Geschichtsfälschung betreibt, sollen einige seiner Position exemplarisch untersucht werden.

»Warum«, fragt Ilan Mor, » haben die Palästinenser immer noch keinen eigenen Staat? Weil sie seit 70 Jahren jedes Angebot zurückweisen«, schreibt der Gesandte. Gemeint ist als erstes der Vorschlag der englischen Mandatsmacht von 1937, einen jüdischen und einen arabischen Staat auf dem Gebiet Palästinas zu schaffen. Wenn die Briten, nach Entlassung ihrer Kolonie Amerika in die Selbstständigkeit, den Indianern, die, darin den Palästinensern ähnlich, immer noch die deutliche Mehrheit der Bewohner stellten, einen ähnlichen Vorschlag gemacht hätten, hätten die sicher auch abgelehnt. Ähnlich verlogen ist die Behauptung Mors über ein »generöses« Angebot Israels in 2000, das von Yassir Arafat verworfen worden sei. Das großzügige Angebot sah vier voneinander getrennte palästinensische Kantone vor, weiter unterteilt durch ein Netzwerk israelisch kontrollierter Straßen und Militärposten, fast 70 Prozent der israelischen Siedlungen im Palästinensergebiet sollten erhalten bleiben, auf Ostjerusalem sollten die Palästinenser verzichten und auf die Rückkehr der Flüchtling natürlich auch. Das ist die Großzügigkeit, die dem Selbstmörder die Pistole in die Hand drückt, denn hätte Arafat diesem »generösen« Angebot zugestimmt, wäre er politisch erledigt gewesen und vielleicht auch physisch

Zur gängigen Demagogie gehört auch der Vorwurf, die Palästinenser würden »als Flüchtlinge gehalten«, als politisches Instrument genutzt. Und der stolze Verweis Mors darauf, dass jüdische Flüchtlinge immer wieder integriert werden, verschärft die Kritik an den unfähigen oder instrumentell handelnden Palästinensern. Wer weiss, und die Redakteure der »Süddeutschen« wissen das natürlich, wie viele Milliarden Dollar in das Projekt Israel geflossen sind, dass der Staat bis heute ohne die Alimentation der USA und anderer Länder nicht lebensfähig wäre, der weiss auch, dass die Behauptung des israelischen Gesandten dem Tatbestand der Volksverhetzung entspricht. »Das Recht des palästinensischen Volkes auf politische Selbstbestimmung«, schreibt Mor, »ist unbestritten. Doch um es zu erlangen, muss es zum Ausgang seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit finden.« Das Existenzrecht Israels, könnte man diesem zynischen Satz entgegenhalten, ist unbestritten. Doch um es in Sicherheit zu erlangen, muss es aufhören mit seiner Gründungslüge zu leben.