Seltsam distanziert wirken die Protagonisten im Film "Die Wilde Zeit" des Regisseurs Olivier Assayas, der im Original "Après Mai", nach dem Pariser Mai 1968, heißt. Die damalige, jähe Hoffnung auf eine französische oder gar europäische Revolution war in den Siebzigern in Wahrheit schon vorbei. Die Fraktionen in der Linken, Anarchisten, Trotzkisten, Maoisten und die traditionellen Kommunisten grenzten sich in dieser Zeit schon schärfer als zuvor voneinander ab. Aber die Fiktion einer Revolution, die man herbeiführen könne, hält sich hartnäckig bei den jungen Leuten, die uns der Film nahe bringt. Wissen sie schon, dass sie scheitern werden? Ist ihre Kühle "Coolness"? Oder ist es die Kälte, sind es die Schatten aus der Zukunft, die Karriere oder die Arbeitslosigkeit, die auf sie warten, ist es der bürgerliche Betrieb, der sich zum globalen Markt entwickeln wird?

Noch treibt im Film die Fülle der Hoffnungen eine Handvoll junger Menschen an, deren Verhalten und Lebensentwürfe für Gymnasiasten unserer Tage völlig undenklich sind. Sie alle glauben zu wissen, dass sie einem revolutionären Ziel zu dienen haben, sie beraten Aktionen, drucken Flugblätter, organisieren Demonstrationen, schlagen sich mit den Bullen und debattieren um den rechten linken Weg. Auch was da an Privatem aufschimmert - man liest sich gegenseitig Gedichte vor, malt und zeigt seine Bilder, liest stapelweise linke Zeitungen - stammt aus einer Welt ohne Internet und Smartphone, wirkt wie aus allen Zeiten gefallen und ist doch erst 40 Jahre her. Über seine Schauspieler, die so um die Zwanzig sind, sagt Assayas: "Fragen, die damals im Vordergrund standen, wie die Geschichte der Arbeiterbewegung und die verschiedenen Schattierungen . . . erscheinen ihnen vollkommen skurril."

Aus der historischen Ferne wirken die Figuren des Nach-Mai ein wenig wie aus einem Bilderbuch der guten alten linken Zeit, als noch alle "Genossen" waren, als man nach Italien fuhr, um bei FIAT oder in Kalabrien, den Streik, den Aufstand, den Kampf tapferer Arbeiter schlechthin zu unterstützen, um daraus ein Kulturprojekt zu entwickeln. Auch der Weg eines Teils der Protagonisten nach Nepal, zu dessen Reiseproviant bunte Pillen gehörten, war nicht einfach eine Reise: Er war ein Projekt zu Erweiterung und Verbesserung des Bewusstseins, wie dieses oder jenes Buch, das man zu Zeiten unbedingt gelesen haben musste. Dass es Wege zu sich selbst waren, und dass diese Wege nicht selten ihr Ziel verfehlten, wer konnte, wer wollte sich das eingestehen?

Wo mögen sie gelandet sein, die jungen Frauen und Männer, die Revolution damals mit drei "R" schrieben, die Solidarität lebten und in ihrem Kampf gegen die Autoritäten einen eigenen, neuen Gesellschaftsentwurf sahen? Haben sie die Rente durch und ein Häuschen an der Ardèche, gehört ihnen das schicke Bistro an der Ecke oder lehren sie die Geschichte von 1968 aus jenen vier Büchern, die sie in den letzten Jahren selbst geschrieben und in denen sie ihre Jugend bereut oder verklärt haben? Das erzählt der Film nicht. Aber was er erzählt, das ist die unbändige Hoffnung, die es damals gab, die Hoffnung auf ein anderes Land, ein anderes Leben. Und was er, wie unabsichtlich fragen lässt, ist, in welchem jugendliche Gewand diese Hoffnung heute auftritt.

Der Film kommt am 30. 05. in die Kinos

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Das muss mal gesagt werden: Die RATIONALGALERIE schafft mit ihren Filmkritiken und Buchrezensionen immer einen angenehmen kulturellen Dialog mit ihren LeserInnen. Danke.

Lisa Martens
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Ihr Satz "oder lehren sie die Geschichte von 1968 aus jenen vier Büchern, die sie in den letzten Jahren selbst geschrieben und in denen sie ihre Jugend bereut oder verklärt haben?", ist ja eine gemeine Kritik an der Professoren-Generation dieser...

Ihr Satz "oder lehren sie die Geschichte von 1968 aus jenen vier Büchern, die sie in den letzten Jahren selbst geschrieben und in denen sie ihre Jugend bereut oder verklärt haben?", ist ja eine gemeine Kritik an der Professoren-Generation dieser Jahre. Aber sie sollten Namen nennen.

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Peter Hannemann
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