Es ist ein familiärer Ton den Achim Engelberg in seinem Buch "Wer verloren hat, kämpfe" anschlägt. Ein Mitfühlen ist aus den Zeilen zu lesen, die den Exilierten der "Abgründe des 20. Jahrhunderts" gewidmet sind. Miteinander verflochten präsentiert uns der Autor die Schicksale, so wie man Dokumentarfilme schneidet, und wenn sich die Lebenswege der Einzelnen auch nur selten berühren, sind sie doch in eine Gemeinschaft gezwungen, die von der Geschichte hergestellt worden ist. Juden sind es und Kommunisten und Sozialdemokraten, alles Menschen, die sich in der Linken der Zwanziger und Dreissiger Jahre engagiert hatten und denen, im Moment der hitlerschen Machterschleichung die Flucht blieb oder der Tod. Manchen erreichte der Tod im als sicher geglaubten Exil, wenn er, dem Terror der Nazis entronnen, in den Terror des stalinschen Repressionsapparats geriet.

Das Wort Terror - zur Zeit durch extrem häufigen Gebrauch abgenutzt, missbraucht und politisch instrumentalisiert - hatte auch einen Platz in der Nazi-Terminologie: Gemeint waren die `Novemberverbrecher´, die deutschen Revolutionäre des Jahres 1918, denen die Nazis den Kampf angesagt hatten, ein Kampf, der den Nazis die Macht und den anderen das Lager eintragen sollte. Der Historiker Ernst Engelberg, Vater des Autors, zählt zu denen, die fliehen müssen, wenn sie nicht ins Lager wollen. Der damals aktive junge Kommunist muss zwar anfänglich nur für achtzehn Monate ins Zuchthaus, will danach aber schnellsten außer Landes, denn ringsum werden die Genossen deportiert oder ermordet. Beinahe wäre er in die Sowjetunion emigriert, aber ein Freund warnt ihn. Offenkundig war das Verschleppen und Ermorden von Internationalisten aller Länder in der Sowjetunion nicht unbekannt geblieben. Engelbergs Vater geht erst in die Schweiz, dann in die Türkei.

Frankreich, die Schweiz, Mexiko: das alles waren bekannte Länder deutscher Emigration in der Zeit des Faschismus. Dass nicht wenige Deutsche auch in der Türkei waren und dort die laizistische Zivilgesellschaft mitentwickelten, ist weniger bekannt. Daher rührt eine hübsche Pointe des Buches, die neben bekannten kommunistischen Funktionären auch einen nicht unbekannten Kapitalsfunktionär als Zeitzeugen präsentiert: Ezard Reuter, ehemaliger allmächtiger Chef der Daimler Benz AG, wuchs in der Türkei auf. Dessen Vater Ernst Reuter, der über die geschichtsbedingten Umwege vom kommunistischen Aktivisten zum aktiven, antikommunistischen Bürgermeister West-Berlins werden sollte, arbeitet als Verwaltungsfachmann in Istanbul. Es sind solche Stellen im Buch, die den Zufall in der Geschichte offenbaren. Schon bei dieser literarischen Begegnung fragt der Sohn Engelberg den Vater, warum der es nicht wie Reuter gehalten habe und sich nicht gegen Stalin und Hitler gewandt hatte. Die Frage zieht sich durch die gesamte Arbeit und wird von den meisten derer, die beide Mordmaschinen überlebt haben und sich für eine Existenz in der DDR, den Satellit der Sowjetunion, entschieden hatten, mit einer ähnlichen Antwort beschieden: Man hätte nicht gegen Stalin und Hitler zugleich ein können.

Nur selten gab es Leute, die sowohl die sowjetischen wie die deutschen Lager von innen kennen gelernt hatten. Noch seltener Menschen, die sie überlebt haben: Margarete Buber-Neumann, die aus politischen Gründen in Moskau zur Zwangsarbeit verurteilt worden, um dann, im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes, an die Nazis ausgeliefert, im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück zu landen, hat überlebt und diese Zeit beschrieben. Engelbergs Buch erwähnt sie, weil in einem ihrer Briefe die Verhaftung und de facto Ermordung des KPD-Mitbegründers Hugo Eberlein beschrieben ist. Und wieder ist es ein Sohn, der die Zeit bezeugt: Der später nicht unwichtige SED-Funktionär Werner Eberlein, plötzlich ohne Vater und auf sich allein gestellt, erzählt von seinem Schicksal und erinnert, dass er an eine Schuld Stalins nicht glauben wollte. Zuweilen ist es eine Art religiöser Inbrunst, die sich die Opfer rückblickend selber bescheinigen, wenn sie ihr Festhalten an der Sowjetunion begründen wollen. Entscheidend bleibt für sie die Wahl, vor die sie gestellt wurden, die sich rückblickend wie die Wahl zwischen Pest und Cholera ausnimmt und trotz der schweren sowjetischen Verbrechen auch heute noch mit dem historisch notwendigen Kampf gegen Hitler begründet werden kann.

Engelberg, der selten eine eigene Position bezieht und lieber seine Zeugen erzählen lässt, gerät zu keiner Zeit in Versuchung, die beiden Schreckensherrschaften gleichzusetzen. Auch wenn die Ähnlichkeiten unverkennbar sind, bleibt gegenwärtig, welche der beiden Länder den Weltkrieg begonnen und welches die industrielle Vernichtung von Menschen, ihrer Rasse wegen, exekutiert hat. Aber gerade dieser Unterscheidung wegen und der anderen, besseren Ziele des Sozialismus, will der Autor hartnäckig erfahren, woher die gigantischen Deformationen einer humanen Idee rühren und gelangt mit seinen Zeitzeugen zu vielen Schlüssen, aber nicht zu einem einzigen, summarisch klärenden. Ein wenig resigniert konstatiert er, dass im Stoff von gestern die Fragen von heute erscheinen. Es ist viel Mühe, Blut und Leid, die uns der erste Feldversuch, Sozialismus zu gestalten, hinterlassen hat. Immerhin ermuntert uns der Titel des Buches, die Niederlagen als Aufforderung zu weiterem Kampf zu begreifen. Es kann sich dabei nur um jene Sorte Kampf handeln, der den Glauben durch den Zweifel als Ferment der Handlung ersetzt.

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