Die vorliegende Arbeit, »Serbien nach den Kriegen«, enthält jene Fülle an Fakten, Analysen und Positionen, die einem intellektuellen Wanderer durch die politische und wirtschaftliche Landschaft Serbiens als notwendiges Utensil ins Marschgepäck gelegt werden sollte. Das von Jens Becker und Achim Engelberg editierte, vielfältige Kompendium endet mit der scharfsinnigen Frage des kroatischen Philosophen Boris Buden: »Was ist die Alternative der liberalkapitalistischen und nationalstaatlichen Demokratie?«.

Hätten die Herausgeber diese Frage den anderen Autoren mit auf den Weg geben können, wäre vielleicht jene produktive Verunsicherung eingetreten, der zweifelndes Nachdenken, im Vergleich zu unbezweifelten Paradigmen, so fruchtbar macht. Schon die Herausgeber vorworten »von den von Serbien provozierten Balkankriegen« und haben recht. Natürlich nur dann, wenn sie jede Einmischung von außen in die Angelegenheiten des sich transformierenden, zerfallenden Jugoslawien ausblenden. Zwar hübscht die Verantwortung des Westens - beschleunigte Anerkennung Kroatiens, der dringliche Wunsch nach weiteren NATO-Partnern, die weitere Einkreisung Russlands, etc. - keineswegs die Verantwortung Serbiens für Kriege und Massaker auf, aber der Balkankonflikt wäre in ein Verhältnis gesetzt worden: Jenes internationaler Interessenlagen.

Der Autor Aleksa Djilas, der mit einem soliden historischen Exkurs zu den südslawischen Völkern seine »Serbische Erfahrungen mit Europa« grundiert, erinnert nicht nur an das hohe Lied das der Westblock auf Jugoslawien gesungen hat, als es sich noch als Karte gegen die Sowjetunion ausspielen ließ, er weiß auch noch, dass die USA und die EU sehr wohl die Möglichkeit hatten, »Zerfall eines europäischen Staates von mittlerer Größe zu stoppen » und »die bewaffneten Konflikte zu verhindern.« Holm Sundhaussen, Professor für südosteuropäische Geschichte an der FU Berlin, sieht in der Ära Milosevic, fraglos zu recht, die Entwicklung eines nationalen Narzissmus, der die Serben als `Opfernation´ begreift und begreift darin den Grund für verzögerte Reformen der Transformation. Und während er sorgfältig die serbische, nationalistische Rechte seziert, kommt ihm der Widerstand gegen die Globalisierung als antimodern, als antiwestlich unter. Natürlich würde sich die antiglobalistische Bewegung solche Bündnispartner verbitten, aber dass Begriffe wie Reform und Globalisierung auch außerhalb Serbiens Skepsis bis zum Brechreiz auslösen, das dürfte ein Berliner Autor schon wissen und werten.

Es ist eine durchgehende Merkwürdigkeit des Buches, dass neben lesenswerter Analyse und Information die Schlüsse der jeweiligen Autoren eher kurz denn durchdacht sind. Die herausragende Latinka Perovic zum Beispiel: Sie referiert über eine spezifisch serbische, vorkapitalistische Form der Genossenschaften, die Zadruga, sie bezieht in die Frage nach der Modernisierung des Landes die vier Jahrhunderte währende türkische Herrschaft ein, sie kann Ökonomie mit Politik verbinden, eine selten gelesene Fähigkeit der Intellektuellen. Aber wo landet sie? An einem Ziel, dass Serbien »endlich in Europa ankommen« lässt. In welchem Europa? Dem deutschen, dem englischen oder gar dem spanischen? Dieser wenig differenzierte Glaube an `Europa´ zieht sich durch das ganze Buch. Als wäre die EU (oder die von Knieper und Meyer als Hoffnungsträger zitierte »internationale Staatengemeinschaft«) frei von Eigeninteressen, als sei sie nichts als ein barmherziger Samariter, der dem gefallenen Serbien auf die Beine helfen wolle.

Wahrscheinlich ist es wenig unfair, wenn man an rund 350 Seiten gezielter Serbien-Debatte noch Zusatzwünsche anmeldet (zum Beispiel wäre ein sozialökonomischer Vergleich mit Kroatien, das sich schon früh dem Westen zuwandte, nützlich: Die Unterschiede zu Serbien sind wesentlich kleiner als man nach all den geballten Euro-Hoffnungen glauben mag). Um dieser Ungerechtigkeit vorzubeugen seien ein paar kluge Gedanken und Informationen aus der Arbeit zitiert: Die orthodoxe Kirche als Erbin des Realsozialismus zu betrachten (N. Stefanow), zum Beispiel. Oder die amerikanische Zensur während des Irak-Krieges mit der in Serbien zu vergleichen, wie es Dragan Velikic macht, von dem auch der folgende Gedanke stammt: »Die internationale Gemeinschaft hat . . . nichts für das Kosovo getan, sie hat nur ermöglicht . . ., dass der Terror einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit ausgetauscht wurde durch den Terror einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit. So ist das Buch in der Bilanz ein Gewinn. Für den emotionalen und politischen Verlust, der mit dem Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien, der keineswegs ein Völkergefängnis war, einhergeht, kann man es nicht verantwortlich machen.