Es war ein trübes Wochenende. Schwer klatschte der Regen gegen die Scheiben des Heims von Hans Magnus Enzensberger. Missmutig kaute der Meister am Schreibgerät. Langeweile legte sich in dicken Lagen über die Möbel und über dem Schreibtisch flackerte das Licht unschlüssig. Was er nur anfangen solle, haderte Hans der Große. Sein Gesicht hellte sich auf: Erst backe ich mal einen Trend, dann braue ich eine schöne Provokation zusammen, so richtig politisch unkorrekt, und ihr werdet sehen, alle reden über mich.

Mit seinem Essay "Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer" hat H. M. Enzensberger alle Feuilletons erreicht, die ersten Tagungen beschäftigen sich damit und, wenn wir Pech haben, wird es auch bald Doktorarbeiten geben, die das kaum verdaute Thema wiederkäuen werden. Nicht zu unrecht sieht Enzensberger in seinem schmalen Band, dass, im Gefolge der Globalisierung, die Zahl der Verlierer ansteigt. Aus dieser Gruppe destilliert der Dichter eine weitere: Die "radikalen Verlierer". Denen ist "mit den Kategorien der Klassenanalyse" nicht beizukommen, denn der, den Enzensberger im ersten Schritt beschreibt, knallt durch, bringt Frau und Kinder um oder seinen Lehrer oder irgendwelche Leute, die gerade vorbeikommen.

Und weil der Dichter, verführt durch die allfällige Sensationspresse, annimmt, es würden immer mehr dieser Schreckensmänner, macht er einen Trend aus, sieht den "radikalen Verlierer" als soziale Erscheinung, die so viel Wesensgleichheit aufweist, dass sie über den beliebten, gleichen Kamm zu scheren sei. Dass es sehr unterschiedliche medizinische Indikationen für einen Amoklauf gibt, dass der verzweifelte, ausgebrannte 60-jährige Büroangestellte außer den BILD- und Blut-Signifikanzen nichts mit dem 16-jährigen Schulversager gemein hat, ficht den Magnus nicht an.

Und weil den Dichter die Tatsachen nicht schrecken, attestiert er dem Verlierer auch die Projektion übermächtiger Feinde, von den Ausländern über die Geheimdienste, "fast immer sind es Juden". Der Amokläufer mit einem ideologischen Programm? Diesen Verhalt kann man nur herbeischreiben, wenn man unbedingt eine zu verallgemeinernde Gruppe braucht, um einen Trend zu erfinden. Auch deshalb ist die Enzensbergersche Begründung für eine wichtige Ursache des Amoklaufs kräftig an den Haaren herbeigezogen: "Deshalb hat die Enttäuschbarkeit der Menschen mit jedem Fortschritt zugenommen." Weil "Gleichheitserwartungen geweckt" wurden, die nicht erfüllt werden. Das klingt etwa so weltläufig wie der sauerländische Zwergschulunterricht Anfang der 60er Jahre.

Ist der Trend begründet, folgt die Provokation auf den Fuß: Der radikale Verlierer gewinnt eine Heimat, "wenn er sich vergesellschaftet". Damit der Fortgang der magnischen Theorie plausibel wird, zimmert er ihr ein flottes, historisches Fundament: "Die Vermutung liegt nahe, dass es Hitler und seiner Gefolgschaft nicht darum ging, zu siegen, sondern den eigenen Verliererstatus zu radikalisieren und zu verewigen." - "Eine andere Erklärung dafür, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg bis zum letzten Berliner Trümmerhaufen gekämpft haben, gibt es nicht." Die Deutschen, ein Trupp von Amokläufern und Hitler ihr Prophet.

Bei Enzensberger: Kein Industrieclub, der Hitler finanzierte, keine Analyse der Gestapo, die den Deutschen bis zu den "Blitzkriegen" Kriegsmüdigkeit attestierte, keine ökonomischen Interessen, keine Gier nach fremder Leute Eigentum, keine sozialen und politischen Einsichten. Nichts als Vulgär-Psychologie, die man auch früher schon gelesen hat: Hitler war verrückt und die Deutschen haben sich anstecken lassen. Na klar, als sie den gross angelegten und für gewinnbar gehaltenen Raubzug zu verlieren drohten, da wollten sie lieber mit Pomp und Götterdämmerung untergehen. Enzensberger fällt auf diese billige Inszenierung rein und strickt sich von diesem Ende auch den Anfang zu einem Start in den Amok.

Wenn heute ein ehemaliger Linker über Hitler redet, ist der Islam nicht weit. So auch bei Enzensberger: "Seit dem (dem Zusammenbruch der Sowjetunion) existiert nur noch eine einzige gewaltbereite Bewegung, die in der Lage ist, global vorzugehen. Das ist der Islamismus." Viele islamische Länder gehören zu den Verlierern, und in nicht wenigen dieser Länder ist eine Minderheit bereit, diesen Status durch Bomben, Terror, Amok unter Einsatz des eigenen Lebens zu verändern. Und damit der Schritt vom einzelnen Verlierer auf den kollektiven Verlierer auch wirklich gelingt, fokussiert der Herr Enzensberger auf die arabischen islamischen Länder, die besonders viel verloren haben. Weil Indonesien und die indischen Muslime nicht in sein Schublädchen passen, bleiben sie einfach außen vor.

Flugs wird eine Terror-Psycholgie entwickelt, die nichts anderes will als die Selbstvernichtung und die in der eigenen Minderwertigkeit wurzelt, letztlich unpolitisch und damit, einer Naturkatastrophe ähnlich, unwandel- und unverhandelbar ist. Damit kann sich die Bush-Administration, der zu der ihr bekannten islamischen Welt ja nichts anderes einfällt als Krieg und nochmal Krieg, sich durch H. M. Enzensbergers kleines, rotes Büchlein bestätigt sehen. Bei einem Satz wie: "Das führt zu einer narzißtischen Kränkung, die nach Kompensation verlangt. Schuldzuweisungen, Verschwörungstheorien und Projektionen aller Art gehören deshalb zum kollektiven Gefühlshaushalt.", fällt dem Schreiber nur die arabische Welt ein. Warum nur fällt mir die Anthrax-Hysterie, die xenophobe Verfolgung arabisch Aussehender und der Verfall demokratischer Sitten in den USA bei diesem Satz ein?

Enzensberger, der es schon einmal besser gewusst hat, vergisst die IRA, die von durchaus terroristischen Positionen nicht in den Selbstmord, sondern in die politische Verhandlung mit den Engländern gekommen ist, die Vietnamesen, die dem Terror der USA den eigenen entgegen gesetzt haben, nicht um sich umzubringen, sondern sich zu befreien, die ETA, deren Terror gegen den spanischen Staatsterroristen Franco in jener Zeit Sympathien bis ins demokratische Lager genoss. Er vergisst den Kolonialismus und seine Folgen, er blendet aus, um zu blenden, seine Analyse endet im Gefummel, im selbstverliebten Geschwätz. Dem Dichter sind viele sonnige Tage zu wünschen und uns gute Stunden, die wir nicht mit Wortmüll, Überdruss und Einäugigkeit verbringen müssen.