Das mach mal: Einen Film über die DDR, über Flucht und Trennung drehen und der DDR gerecht werden. Das mach mal: Eine Liebesgeschichte auf den zwei deutschen Böden spielen lassen und nicht verkitscht sein. Das mach mal: Einen Westler in der Geschichte rumlaufen lassen, der ziemlich verrückt ist und doch so merkwürdig normal wie das Land, in dem wir alle wohnen. Es geht. Gut. Und der Film ist, über alle Lasten, die ihm Geschichte und Story aufhalsen hinaus, auch noch ein Debütfilm. Von Christian Schwochow.

Irgendwo in Mecklenburg, Malchow, ein Ort zwischen Dorf und Kleinstadt, können wir sie treffen: Die strahlend junge Inga. Sie hat sich, obwohl auch im Osten schon seit bald zwanzig Jahren Westen ist, die schreckliche Angewohnheit der DDR-Bürger zu jeder Jahreszeit in kalten Seen zu baden, nicht abgewöhnen können. Auch das merkwürdig Soziale, sich kümmern, die Leute kennen und mit ihnen reden, ist ihr erhalten geblieben. Anna Maria Mühe gibt uns diese Inga mit jener Mischung aus schnoddrigem Mädchen und nachdenkenswerter Frau mit einer immer wachen Präsenz, die einen mit Neid erfüllen könnte, wenn man Schauspieler wäre. So bleibt man einfach dankbar.

Die Inga lebt da gerne wo sie lebt. Andere mögen wegziehen, sie bleibt auf ihrem Posten als Bibliothekarin und auch wegen der Großeltern, die zugleich die einzigen Eltern sind, von denen sie weiß. Ihre Mutter hatte sie nicht kennen lernen können, die ist, sagen alle, in der Ostsee ertrunken. Während Inga erwachsen geworden ist, behütet von den Großeltern, sind die Alten geschrumpft, jetzt hütet Inga. Über Nacht kommt Robert (Ulrich Matthes), der Professor aus Konstanz, in den Mecklenburgischen Ort. Von ihm erfährt Inga eine der Wahrheiten: Die Großeltern, die beste Freundin ihrer Mutter, und wer noch: Alle haben sie belogen. Ihre Mutter ist, unmittelbar nach ihrer Geburt, in den Westen geflohen. Mit einem russischen Soldaten.

Wie das jetzt pendelt, zwischen dem Verrat der Mutter an dem kleinen Kind und dem Verrat des Verschweigens, das gibt dem Film bis zur letzten Minute einen Spannung, die ohne Denunziation auskommt, ohne Anklage. Eine Klage bleibt. Die Großeltern haben, so erzählt der Film, aus Liebe geschwiegen: Wer wollte denn dem Kleinstkind schon eine Mutter auflasten, die es im Stich gelassen hat. Aber ein Stück Schweigen kommt auch aus ihrer Haltung zur DDR: Großvater war damals Lehrer, Schulrektor gar, aus der Generation der »Neulehrer» einer Spezies, die man im Westen nicht kennen wollte. Die stand zu jenem Land dem sie - schlecht bezahlt und mehr als die Woche Stunden hatte - in zuweilen anrührender Weise dienten. Und dazu: Opa wurde wegen der Flucht der Tochter degradiert, durfte nicht mehr Rektor sein. Man war kein Held. Aber was alles soll das der Inga nutzen? Sie kann das Schweigen nur als Verletzung empfinden, als Diebstahl an ihrem Leben.

Robert der Professor, Robert der Gescheiterte, einmal noch will er in seinem ordentlichen, ausgewogenen Leben einen Wurf machen, dann kommt er ganz groß raus. Dazu braucht er Ingas Leben und das ihrer Mutter, den Entwurf für ein großartiges Buch. Mit den großen Augen des verstörten Kindes, das in diesem Robert steckt, irrt Ulrich Matthes durch den Film. Hier kommt irrt von irritierend: So soll er sein, sagt das Drehbuch, er soll das Leben der Inga irre machen und auch den Zuschauer so lange mit Zweifeln füttern, bis dessen Hunger auf das Eindeutige wächst und wächst. Das nützt dem Zuschauer. Der lernt, wenn er das nicht schon vorher wußte, dass es Eindeutiges nicht gibt. Dem Robert nutzt das nichts.

Dann ist da noch Juri der Russe, der kleine Soldat, ein Deserteur, der ganz gewiss erschossen wird, wenn er nicht aus der DDR flieht. Wer weiß, wie sowjetische Soldaten in der DDR lebten - schlecht ernährt, ohne Ausgang und mit der Schinderei, die vielen Armeen der Welt zu eigen ist - der weiß auch, warum er den ziemlich sicheren Tod riskiert. Aber mit Ingas Mutter gelingt ihm die Flucht in den Westen. Immerhin, er bleibt dort am Leben. Und doch nur der Russe. Später, als Inga ihre Mutter sucht, als sie an der Hand von Robert den doppelt fremden Westen kennen lernt und auch sich selbst, wird sie ihn treffen: In schäbigen Räumen neben dem Schotter der Gleise eines Güterbahnhofs.

»Novemberkind« ist einer der wenigen Filme über den doppelten deutschen Boden, der um Verstehen ringt, ohne dass ihm die Anstrengungen anzumerken wäre. Das mag auch daran liegen, dass der Regisseur und seine Mutter, die Co-Autorin des Buchs ist, aus der DDR stammen. Ganz sicher liegt es daran, dass Christian Schwochow sich die richtige Frage gestellt hat: »Will ich mit einer Lüge leben, wenn doch alles ganz gut funktioniert oder statt dessen die Wahrheit einfordern, auch wenn damit Schmerz und Enttäuschung verbunden ist? Es ist die Frage nach dem richtigen Leben im Falschen. Und diese Frage ist nicht an die DDR und ihr Danach gebunden.« Mit dieser Haltung ist ihm und den vielen anderen Mitwirkenden ein spannender, kluger und anrührender Film gelungen. - »Novemberkind» kommt am 20. November in die Kinos.