Laß die Toten ihre Toten begraben.
Lukas 9, 60

Sie gruben und gruben, so ging
Ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wußte.
Paul Celan, Die Niemandsrose

Der Rumäne Filip Florian (Jahrgang 1968) hatte das unbestreitbare Glück, als Journalist die westliche Demokratie bei den Sprachröhren der Freiheit studieren zu dürfen: Radio Freies Europa und Deutsche Welle. Dann verfasste er den Roman „Kleine Finger“, der die Befindlichkeiten in einer rumänischen Kleinstadt um die Jahrtausendwende behandelt und alsbald vielfach ausgezeichnet wurde. Soweit der Klappentext.

Ort der Handlung ist ein idyllischer Kurort in den Karpaten, wo gerade ein römisches Kastell freigelegt wird. Ein Junge sucht einen Angelköder und entdeckt ein Massengrab. Ein Polizeichef will sich wichtig machen, die zweihundert Jahre alten Pestopfer der kommunistischen Diktatur unterjubeln und untersagt die Ausgrabung des Kastells. Stattdessen wühlen Soldaten die Gebeine aus. Angereiste Militärstaatsanwälte weisen ihre Daseinsberechtigung nach und archivieren mit Bienenfleiß die morschen Knochen.
Die verschiedensten Zeitgenossen mischen mit. Ein Archäopteryx – was schreibe ich da? – ein Archäologe natürlich! Der offizielle Vertreter der politischen Häftlinge. Ein uralter ehemaliger Kapitalist (im Klappentext politisch korrekter als Unternehmer bezeichnet). Ein Oberst. Ein Priester. Sogar ein Dromedar. Nur die neuen Reichen tauchen nicht auf.

Der Archäologe, er heißt Petrus und leidet an einem Magengeschwür, verliebt sich in die Studentin Jojo. Sie hatte einen Po, zart wie eine Erdbeere. Lecker! Petrus wird behütet von Tante Paulina, die aber (o Wunder!) einen Schatz findet und verreist.
Der alte Oberst, der in Moskau studiert hat und bei dem Verhör eines bissigen Gefangenen den kleinen Finger verlor, was für den Fortgang der Handlung nicht ohne Bedeutung bleibt, beobachtet im Hotelzimmer eine Spinne mit sechzehn Beinen. Auch das ist ein (anatomisches) Wunder, denn bei den Arachniden sind nur vier Gliedmaßenpaare als Laufbeine ausgebildet.

Dann wird es ernst. Fünf Massengrabexperten fliegen aus Argentinien ein. Irgendwann taucht ein sonderbarer Heiliger namens Onufrie auf, ein physiologischer Wundermann, dem das Stirnhaar in irrsinnigem Tempo wächst und dreimal die Muttergottes erscheint. Dieser Mann Gottes segnet später die Gebeine. Pechschwarze Strähnen ragten über der Stirn des Pfarrers auf, die sich fremd ausnahmen neben dem sahneweißen, glatten Haarschopf, sodann begannen sie ihre Farbe zu verlieren und zusammenzusinken wie Blumen, die der Frost gezwickt hat, wobei ein tiefblauer Saft aus ihnen zu fließen begann. Entweder liegt hierin eine dem Mitteleuropäer unverständliche Anspielung auf die Haartolle des großen Conducators, oder die allgemein kräftige Körperbehaarung des balkanischen Mannes wird sublimiert.

Mittendrin hat der Autor eine ausufernde Abhandlung über die Militärdiktatur in Argentinien eingestellt, mit schier unglaublicher Moral: Der osteuropäische, von den Russen inthronisierte Kommunismus war angeblich für gläubige rumänische Schafhirten leichter zu überleben als die von den Amerikanern finanzierte südamerikanische Militärjunta für unangepasste Argentinier. Außerdem bleibt uns die Erkenntnis, dass in faschistischen Diktaturen besserer Fußball gespielt wird, als in kommunistischen. Der DFB weiß das schon lange.

Massaker nach ethnischen und wirtschaftlichen Auswahlkriterien sind ein Hauptbestandteil der Geschichtsschreibung. Im alten Dakien wüteten die Skythen, Römer, Goten und Hunnen. Dann sickerten Slawen in die entvölkerte Landschaft ein. Wolga-Bulgaren, Byzantiner, Türken und Österreicher fielen über den Balkan her. Zwei Weltkriege tobten, Pogrome, nicht zu vergessen die jugoslawischen Bürgerkriege und der ruhmreiche Kosovo-Krieg. Die Ermordeten wurden zu allen Zeiten aus hygienischen und Sparsamkeitsgründen in Massengräbern verscharrt. Allerdings wuchs im 20. Jahrhundert infolge der üppigen Vermehrung der Spezies Mensch und flächendeckender Ideologisierung die Anzahl der Getöteten und damit die Größe der Massengräber enorm.

Filip Florian reflektiert die Frage nach der Schuld skeptisch. Gefangenenlager, Folterkeller und Massengräber werden lokalisiert, Gedenkstätten errichtet, Zeugenaussagen und Fotos gesammelt, Bücher geschrieben und Filme abgedreht, aber die Täter bleiben meist verschont. Die Schuldbeladenen verdrängen die Wahrheit, die Nachgeborenen erfahren sie neu aus den Medien, denn alles Menschenwerk unterliegt zyklischer Revision. Die Wahrheit ist nur ein Trick. (Milorad Pavic)

Aus alten und neuen Legenden hat Filip Florian, laut Klappentext eine der großen Begabungen der osteuropäischen Literatur, ein ganz unterhaltsames Panoptikum Rumäniens mit viel Lokalkolorit erschaffen, dem aber der innere Zusammenhalt und die balkanische Leidenschaft etwas fehlt. Sogar die Liebe des Icherzählers, des magenkranken Archäologen, zu der niedlichen Jojo bleibt seltsam blass. Sie versickert schließlich zwischen den Zeilen, doch Tante Paulina, die heimgekehrte Herrin des Goldschatzes, denkt immerhin über eine Morgengabe nach.
Zum glücklichen Ende korrigiert des Nachts ein tapferer Einzelkämpfer gegen den Kommunismus die Geschichte. Der Priester Onufrie nimmt ihm tags darauf die Beichte ab.