Die Unabhängigkeit ist das einzige Gut,
das wir,
auf Kosten aller anderen Güter, erreicht haben.
Simón Bolivar

Was dem einen sein Bismarck und den anderen ihr Atatürk, ist vielen Lateinamerikanern Simón Bolivar, der scheinbar untadlige Befreier Lateinamerikas. Natürlich ist Bolivar ein Mythos. So wie die deutsche Reichseinigung unter Bismarck gerne unter Verzicht auf den Machtgewinn Preußens erzählt wird oder die Reformen Atatürks ohne die Repressionen, so glänzt Bolivar als Befreier einer Reihe lateinamerikanischer Länder von der spanischen Besetzung. Norbert Rehrmann beleuchtet mit seinem Buch "Simón Bolivar" den Helden kritisch und heraus kommt, dass Siegfried nie in Drachenblut gebadet hat: Er war nur unsensibel.

Fraglos ist es verdienstvoll, den Mythos Bolivar auf den eigentlichen Kern zu reduzieren: Der Befreier aus der kreolischen Oberschicht war ruhmsüchtig, hatte kein sonderliches Interesse an der Befreiung der Mehrheit der Latinos, jener 80 Prozent Indios, Sklaven und Mestizen, auf deren Schultern fast alle Arbeit lastete. Er wollte die Abkömmlinge der Spanier im Land, die Kreolen, aus der Konkurrenz mit dem Mutterland an die Macht führen und war sich sicher, dass ein befreites, erneuertes Lateinamerika nur unter seiner diktatorischen Führung reüssieren könne. Aber der kurze Schluss des Autors am Ende des Buches, "der extreme Personalismus, den der Bolivar-Kult verkörpert, lässt für die Demokratie in Venezuela und anderswo nichts Gutes erwarten", behauptet doch mehr als er beweist.

Rehrmanns Buch ist zum einen mit der klugen Sicht auf die 200-Jahrfeier lateinamerikanischer Selbstständigkeit im kommenden Jahr geschrieben, zum anderen zielt es auch en passant auf die unterschiedlich linken Entwicklungen in den südamerikanischen Ländern. Ganz besonders albern findet der Autor die "Bolivarische Republik Venezuela" und ihren Protagonisten Chavez, für den er wesentlich Häme übrig hat. Diese Haltung, selbst dort, wo sie berechtigt ist, befördert weniger Kenntnisse als die gewünschte Marktfähigkeit des Buches. So bleibt nicht aus, dass ein verengter Blick die Anstrengungen der Latinos um ihre Selbstständigkeit mit wenig Bezug zur historischen Gesamtsituation betrachtet. So, als wären die Ereignisse auf dem Subkontinent isoliert von denen in Europa und Nordamerika zu betrachten.

Obwohl Rehrmann selbst konstatiert, dass die 300 Jahre des iberischen Kolonialismus von blutiger Gewaltherrschaft geprägt waren, dem Genozid an der Urbevölkerung und dem Abfluss der Gold- und Silberströme ins Mutterland, hält er Bolivars Anklage, die Spanier seien "Barbaren" und "Monster" für ein Zerrbild der Wirklichkeit. Schließlich seien die Vorfahren Bolivars, wie die anderen Kreolen auch, an der Ausbeutung Lateinamerikas beteiligt gewesen: "War er (Bolivar) nicht einer der reichsten Kreolen Venezuelas", fragt der Autor und arbeitet mit dem relativ bekannten, preiswerten Trick der persönlichen Denunziation: War Friedrich Engels nicht ein Fabrikantensohn, durfte der sich deshalb um soziale Befreiung kümmern? Natürlich nicht, impliziert die Frage. Und so wird auch Bolivar in eine Sippenhaft genommen, die ihm die Gegnerschaft zu Spanien verwehrt.

Auch wirft das Buch dem Bolivar vor, dass er zwar ein Lippenbekenntnis zur Sklavenbefreiung abgegeben, aber nichts gegen die Sklaverei unternommen habe. In dieser Reihe attestiert Rehrmann dem Befreiungsgeneral geringe Kenntnisse der indigenen Lebensweise und eine daraus resultierende falsche Politik. Das stimmt natürlich alles, denn Rehrmanns Buch ist kenntnisreich und speist sich aus vielen wissenschaftlichen Quellen. Aber wenn man daran erinnert, dass die nordamerikanischen Gründerväter wie Washington und Jefferson Sklavenhalter waren und die junge USA einen erfolgreichen Vernichtungsfeldzug gegen die Indianer geführt hat, ist damit ganz sicher nicht das Wesen der amerikanischen Befreiung vom englischen Mutterland und die Gründung der Republik erklärt. Das gilt auch für Bolivar und seine Revolution: Natürlich war sie an den Interessen der Kreolen orientiert und Befreiungsbewegung war sie trotzdem.

In der Eile, die Art der Befreiung Lateinamerikas als wesentliche Quelle für den dort über Jahrzehnte herrschenden Caudillismus, die vielen Putsche und Diktatoren zu denunzieren, blendet Rehrmann die Rolle der USA einfach aus. Zwar erinnert er an Jefferson, der in der Zeit des lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampfes "jene Länder" lieber weiter in der Hand Spaniens gesehen hätte, aber dass die USA bis jüngst kaum einem rechten Putsch die Unterstützung verweigerte und Caudillos aller Art gern gesehene Gäste in Washington waren, bezieht Rehrmann nicht ein. So bleibt ein Buch, dass mit einer Fülle von Fakten aufwartet, das aber in seinem kommentierenden Teil gegen den Strich gelesen werden muss.