Da schreibt einer, weil er sonst schreien müsste. Einer, den die globale Tyrannei körperlich schmerzt. Der versucht, sich ins Freie zu schreiben, um der Freiheit aller willen. John Bergers dünner, schwerer Band »Mit Hoffnung zwischen den Zähnen« ist bei Wagenbach erschienen. Es sind Berichte, untertitelt der Verlag, »von Überleben und Widerstand« und es sind Berichte vom Zustand der Welt, Miniaturen von sprachlicher Schönheit und wirklicher Grausamkeit, von Mitgefühl geprägt und dem unbestechlichen, kühlen Verstand des großen Schriftstellers.
Über Heimat denkt Berger nach, über Heimat in einer Zeit, in der Millionen ihre Heimat verlassen, um etwas Besseres als den Tod zu finden. Und Berger findet die Zerstörung von Heimat nicht nur in den Flüchtlingen vor der Armut, er sieht sie auch in der Delokalisierung von Produktion, im Wunsch der Herrschenden, die ganze Welt solle ein einziger, fließender Markt sein, in dem der Mensch dem Konsumenten gewichen ist, der seine schöne neue Heimat in Logoi findet, die zu »Ortsnamen des Nirgendwo« geworden sind. Als ich Kind war, trugen die Straßen Namen nach Krupp, nach Borsig. In meinem Viertel gab es sogar eine Stahlstraße und eine Eisenstraße. Wir sollten schon wissen, wem wir unsere Behausung verdankten. Heute tragen die Menschen ihre Brandzeichen auf der Haut: Die Streifen von Addidas, das Krokodil für den scheinbar besseren Herrn. Selbst der erbärmlichste Flüchtling sorgt sich noch darum, einen Nike-Swoosh auf dem Schuh zu zeigen.
Während in den Ländern der totalen Zerstreuung, der über Fernsehen, Spielkonsolen, Vernissagen und Boulevardzeitungen gewährleisteten Permaablenkung, der Terrorismus als anonymer Schrecken und alltägliche Keule zur Unterdrückung von Demokratie vorgeführt wird, gibt Berger dem Terroristen, dem Selbstmordattentäter ein Gesicht, ohne einen Einzelnen zu zeichnen. Das Attentat sei nichts anderes als eine Form der Verzweiflung, schreibt Berger und nennt es einen »Akt der Grenzüberschreitung, um durch Hingabe des eigenen Lebens dieser Verzweiflung einen Sinn zu geben.« Mit Arabern kann man nicht reden, sagt mein unkrainisch-israelischer Masseur. Das muss es sein. Denn tatsächlich redet keiner wirklich mit ihnen, nicht die Israelis, nicht die USA, nicht die EU. Erst müsst ihr die Waffen aus der Hand legen, das Atomprogramm aufgeben, den Staat Israel anerkennen, dann reden wir mit euch. In der Zwischenzeit rüsten wir ein wenig auf, dehnen unsere Grenze aus, vermehren unsere Atompotenzial, verbrennen euer Korn in unseren Autos.
Ein Kapitel in Bergers Buch heißt »Die Vergangenheit ausradieren«. Entstanden ist es aus einem Gespräch mit einer achtzigjährigen Russin, die noch vor ein paar Jahren als Ärztin in Moskau arbeitete. Arzt sei sie geworden nach der Schlacht um Kursk, die zahllosen Sterbenden und Verwundeten hätten sie dazu bewogen. Und unversehens gelangt Berger von Kursk nach Polen, wo man einem ehemaligen Spanienkämpfer wegen eben dieses Engagements die Rente streichen wollte. Um sich dann Milton Friedman zu widmen und den neuen, globalen Freiheiten des Kapitalismus. Berger sieht Linien in der Geschichte, deren Ende doch schon einmal erklärt wurde und ihm fallen auch Verbindungslinien zwischen der wirtschaftlichen Schocktheorie Friedmanns und den Elektroschocks in den Foltergefängnissen der USA auf. Diesen langen Linien folgend erzählt er von der Ärztin, die im Uranbergau arbeitete, dort Krebskranke versorgte und selbst am Krebs erkrankte: »Wenn wir kein Uran abgebaut hätten, um Atomwaffen herzustellen, »sagt ihm die Frau, »wären wir heute eine amerikanische Kolonie.« Sie ist nicht auszuradieren, die Vergangenheit.
Trotz der gewaltsamen Welt, die Berger beschreibt, an der er leidet, gegen die er sich aufbäumt, gelingen ihm immer wieder zarte, pastellene Geschichten wie jene über ein Feld und grasende Esel und eine mittägliche Stille. Ausgerechnet dieses Kapitelchen beendet er mit einer einfachen Feststellung: »Ja, unter anderem bin ich immer noch Marxist.«