Der Autor der Rezension Diether Dehm ist europapolitischer Sprecher der Bundestags-Fraktion der LINKEN.

Berichte aus gewerkschaftlichen Einzelkämpfen machen Bernd Riexingers Buch „Neue Klassenpolitik“ lesenswert. Besonders lehrreich: die Kapitel „Rationalisierung der Büros - Kämpfe um (verkürzte Arbeits-)Zeit“ (S.31). In den Erinnerungen an "Rheinhausen" (S. 25) fehlt (mir als damaligem Konzertveranstalter) die großartige Solidarität der „Toten Hosen“, Grönemeyer, Meinecke, Lage, Wader u. a. sowie der örtlichen Duisburger Handwerker und Ladenbesitzer. Überhaupt findet sozialistische Kulturarbeit als Konstituens von Klassenbewusstsein im Buch überhaupt nicht statt. Und zu Kleinunternehmen (immerhin 82% der KMU in der EU) hat Riexinger ein eigentümliches Nicht-Verhältnis. Obwohl er „verbindende Klassenpolitik“ propagiert.

Was meint er mit „Neuer Klassenpolitik“? Macht da eine Klasse selbst Politik? Oder macht da irgendwer „Politik“ für diese „Klasse“? Ist das Proletariat dabei aktives Subjekt oder nur Rezipient? Handelt es sich um die Klasse an sich? Oder um die Klasse „an und für sich“? Also um ein bislang bestenfalls in Kadern verkörpertes Abstraktum? Und wäre Riexinger und sein Parteivorstand heute solcherlei Avantgarde? Also: wer malt mit proletarischem Überblick die (Arbeits-)Welt von heute für morgen? Mit welcher radikalen Arbeitszeitverkürzung und gleichzeitiger Entschleunigung innerhalb der Werkstückfertigungen in den Staaten des hochkumulierten Kapitals? Also unter Nutzung des technischen Fortschritts für den Abbau von Stress und anderen Krankheiten? Wer „verbindet“ mit welchen mobilisierenden Hauptkampfforderungen?

Bernd Riexinger blendet die raumzeitliche Konkretheit des „Kommunistischen Manifests“ aus: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“ (MEW, Bd. 4, S. 473). Das heißt: Klassenbewusstsein wächst an den jeweils nationalen Bedingungen, Kulturen, Gesetzen, Arbeitsalltagen usw. und „der eigenen Bourgeoisie“ zum allgemeinen, „dem Inhalt nach“ internationalistischen heran. Diese Dialektik bleibt so außerhalb des Buchs, wie die aus Bündnisbreite durch Zuspitzung.
Tarifauseinandersetzungen, wie im Stuttgarter Einzelhandel 2008 (S. 97), die jüngeren Kämpfe in den letzten zehn Jahren bei UPS, Friseuren, Gaststätten, Erzieherinnen (S. 38, 45, 105) nicht nur mit den mangelnden Tarifbindungen (S.133) und der „zu geringen Politisierung der Kämpfe“ (S.108) werden vom Autor zwar anschaulich aufgezählt. Aber diese empirische Fülle bleibt für zuspitzende Gegenkulturbildung „neuer Klassenpolitik“ appellativ, überfordert begrifflich Leser und Autor. Wobei auch einige Marxisten dem Missverständnis unterliegen, ein revolutionäres Klassenbewusstsein habe sich gänzlich von den konkreten (etwa nationalen) Konstituenten internationalistisch abstrahiert. Selbst 50 Jahre nach der Revolution musste Fidels KP noch „Patria o muerte! plakatieren“

Bis zur letzten Europawahl hatte Bernd Riexinger mehrfach behauptet, die AfD habe ihren Zenit bereits überschritten, sei bei 3% im Sinkflug. Nun will er die AfD nicht mehr so „auf die leichte Schulter nehmen“ (S.123) weil „überdurchschnittlich viele Gewerkschaftsmitglieder anfällig“ seien. Für ihn bleibt dies ein Webfehler in Arbeiterköpfen, die „soziale Frage mit Höcke nicht mehr zwischen unten und oben, sondern zwischen innen und außen“ zu sehn. Gleichwohl sei „noch keine Partei so stark in den Gewerkschaften vertreten, wie die Linke“ (S.141). Diesen Widerspruch unaufzulöst zu lassen, warf ihm Christian Baron im „Freitag“ ausführlich vor und warum „die von ihm geführte Linkspartei bei 9% dümpelt, während die sozialpolitisch nicht von der FDP zu unterscheidende AfD von Erfolg zu Erfolg stolpert.“ (https://www.freitag.de/autoren/cbaron/jenseits-vom-schwelen)

Für Riexinger scheint es auch weder die Oktoberrevolution, noch den marxistischen Monopolbegriff zu geben, sondern mit Michael Vester - und wieder nur additiv: "... fünf Großgruppen in einer Gesamtlandkarte der deutschen Milieus. Die Gruppe der kapitalistischen Klasse ... bei den großen selbständigen Unternehmen und hohen Managern und bei den kleineren Unternehmen und mittleren Managern ..." (S.75) Dagegen setzt er ohne analysierende Kohäsion, etwa in Bezug auf national erkämpfte Sozialstaatlichkeit, nur irgendetwas „Verbindendes“, das „über die Milieuzugehörigkeit hinausgeht" (S.76).

Keine Idee, die die Massen ergreift, kommt aber als beschriebene Papierschwalbe von oben gesegelt und wird von der staunenden Klasse heruntergeangelt, muss angelegt sein. Die von den nichtimperialistischen Schichten verschieden erlittenen Einsichten müssen zu wenigen, aber belastbaren Kampfparolen gebündelt werden. Lenin z. B. war glühender Internationalist und tat gegen Rassismus enormes. Er sorgte ebenfalls für die fortschrittlichsten Frauenrechte der Welt. Also keinesfalls, weil er auf Antirassismus und Feminismus strategisch verzichten wollte, begrenzte er die Hauptziele am 26. April 1917 vor dem Petersburger Bahnhof auf genau drei: „Frieden, Brot und Land für die kleinen Bauern“! Dies tat er, um Andere, vor allem die riesige Bauernschaft (für Marx noch „wie etwa ein Sack von Kartoffeln“; 18. Brumaire, S.198) um das winzige russische Proletariat (2 von 130 Mio) für Bündnis neu zu erschließen - auch für Feminismus.

Denn "neue" beziehungsweise "verbindende Klassenpolitik" muss zuspitzen! Kann aber auch alle ihre sämtlichen Forderungen, die auf irgendeinem Parteitag irgendeine Mehrheit fanden, als Spruchbänder auf eine kilometerlange Wäscheleine hängen: Gendern der Sprache, Kampf um Löhne, mehr Migration, Abbau nationaler Grenzanlagen und nationalstaatlich erkämpfte Standards und ... und ... und ... und ... nebst dem Kampf gegen "Naturzerstörung, Rassismus, Sexismus, Reichtumsakkumulation bei wenigen, Belastung der vielen durch körperliche Arbeit ... um … die verschiedenen Interesse, Bedürfnisse und Träume zu verbinden“ (Riexinger, S. 156). Eine antimonopolistische Strategie hingegen ist zunächst zuspitzende Sammlung aller, mit dem Monopolkapital in mehr oder weniger scharfem Widerspruch geratenen Schichten und Gruppen um das Proletariat als Hegemon und Hauptantagon aller depravierenden Verhältnisse.
Diether Dehm

Die vollständige Fassung dieses Beitrags erscheint im März in den „Marxistischen Blättern“