Es ist ein Buch deutscher Geschichte, die kräftig in die Gegenwart ragt. Eines, dass sich mit der doppelten Nation der Deutschen beschäftigt und ihrer Unfähigkeit, diese Doppelung und ihren Widerspruch ohne große Verwerfungen zu tragen oder zu lösen. Es ist ein Buch der deutschen Sprache, jener Mittlerin zwischen den unterschiedlichen Landschaften und Dialekten des frühen Deutschlands. Und es ist die wundersame Geschichte von einem Deutschen, der in Russland den Zweiten Weltkrieg übersteht und einem Luther-Roman zum Leben verhilft. Dass Thorsten Beckers Arbeit "Das ewige Haus" zu all dem auch noch ein Bildungsroman ist, vergnüglich und zuweilen boshaft, das gibt ihm die Chance, den Markt, auf dem er reüssieren wird, zu überstehen und zu einem lange gültigen Buch zu werden.
Baron Wolfgang von Wolzogen, Pilot in Hitlers Luftwaffe, sieht den letzten deutschen Krieg als Verbrechen: Eines an anderen Völkern und nicht zuletzt eines an den Deutschen. Er wird in Beckers Roman dem Beispiel des (historisch belegten) Fliegerleutnants Graf Einsiedel folgen, der, von sowjetischem Boden aus, mit dem "Bund Deutscher Offiziere" zum Kampf gegen die Hitler-Dikatur aufrief und zur Beendigung des Krieges. Der agnostische Wolzogen ist seinem tief gläubigen Freund Gutsche, dem Autor eines Romans über den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., einem Buch, das den Nazis als hinreichend nationalistisch und vielen evangelischen Christen als protestantisch-widerständig gilt, eng verbunden. Als Gutsche für sich, seine jüdische Frau und sein Kind aus Angst vor deren Deportation den Freitod wählt, ist Wolzogens Entschluss gefasst: Er desertiert. So beginnt im Buch die zweifache Nation erkennbar zu werden, die Geschichte der Anständigen gegen die Unanständigen, die der Beherrschten gegen die Beherrscher.
Schon die Entscheidung des Autors, sich einen Mann des kommunistisch kontaminierten Widerstandes als Erzähler zu wählen, aus jenem Kreis von Offizieren, die jüngst noch, anders als die Menschen des 20. Juli, als Landesverräter galten, weil sie sich "mit den Russen" zusammentaten, gibt der Arbeit Beckers eine, für die gewöhnliche Bundesrepublik überraschende Perspektive. Dass er den Wolzogen dann im sowjetischen Exil auf den Schriftsteller und deutschen Kommunisten Erich Weinert treffen lässt, dass der dem Piloten den Auftrag erteilt, aus dem von Gutsche hinterlassenen Fragment eines Luther-Romans ein fertiges Buch zu gestalten (was dem wirklichen Weinert durchaus nahe gelegen hätte), ist ein Konstrukt von luzider Qualität. Alles ist jetzt angerichtet. Das Preußische, das Lutherische, das schwierige Deutsche und etwas völlig Vergessenes: Der Patriotismus der deutschen Kommunisten, die doch so gerne Internationalisten waren.
Weil Becker zwar einen historischen Roman geschrieben hat, sich aber nicht als Historiker versteht, spiegelt er den Luther anfänglich im Denken seiner künftigen Frau. Die Nonne, noch nicht entlaufen, noch nicht mit dem Übersetzer der Bibel ins Deutsche verheiratet, erfährt vom Wundermann Luther, dass der den Nonnen die Freiheit geben will bei einem Mann zu liegen. Das erscheint der künftigen Lutherin als eine durchaus reizende Sünde. So gibt der Schriftsteller dem Gesellschaftlichen von Beginn an eine private Grundierung, weil das Gesellschaftliche ja auch nur so funktioniert. Zwar ist es mehr als die Summe alles Privaten, aber fraglos auf ihm basierend.
Während der Pilot und Erzähler langsam in den Hintergrund tritt, nicht ohne mit Johannes R. Becher zusammenzutreffen und eine Plauderei über Lenins Schrift `Materialismus und Empiriokritizismus´ zu erwähnen, entfaltet sich ein anfängliches Lutherbild, das weiß, "dass man den Teufel am sichersten mit Furzen vertreibt" und das den großen Reformator in kleinlicher Konkurrenz mit seinen Weggefährten Melanchthon, Karlstadt und Müntzer zeigt, von denen die beiden letzteren schon länger nicht mehr seine Freunde sind. Becker verkleinert den Luther nicht, er bettet ihn nur in eine historische Landschaft ein, eine Umgebung, die durchaus auch von Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche geprägt ist: Dem Schlüssel, den er damit dem gemeinen Mann zum Verständnis von Himmel und Erde in die Hand gegeben hat. Eine Landschaft, die aber schon länger - von den Hussitenkriegen in Böhmen über die bäuerlichen Bundschuh-Verschwörungen in Süddeutschland bis zur Bauernrepublik Dithmarschen - durch den Emanzipationswillen vieler Bauern und nicht weniger Städter zur frühbürgerlichen Revolution vorbestimmt ist.
Die Bibel selbst lesen zu können und sie auch selbst zu interpretieren, nicht mehr auf die Vermittlung der Obrigkeit angewiesen zu sein, das ist ein eher versehentliches Geschenk Luthers an die Untrigkeit, jene Melange aus Bauern und Handwerkern. Denn auch die letzteren hatten bereits mit dem "Berliner Unwillen" (1448) und anderen Auseinandersetzungen in den Städten Köln, Worms, Braunschweig oder Erfurt den Willen dokumentiert von Unten nach Oben zu kommen. Der Luther in Beckers Buch, dem wirklichen Luther entsprechend, rudert zurück: Wo käme man denn hin, wenn nicht mehr er die Interpretationshoheit über das Evangelium hätte, wenn seine Freunde, die Fürsten, Leib, Leben und Herrschaft verlören, die ihm, dem "Bruder Sanftleben", ein ordentliches Auskommen sichern. Zudem ist er dabei, sich zu verheiraten und seine Frau hat Pläne für einen ordentlichen Hausstand. Also wirklich.
Und während auf der einen Ebene des Buches und der Geschichte, Anfang 1525, die süddeutschen Bauernhaufen ihre Schlachten verlieren und sich die Bauern um Thomas Müntzer in Thüringen zu einer entscheidenden Schlacht sammeln, schaudert es auf der anderen Ebene des Buches den Wolzogen vor dem Hass, der aus den Aufrufen Luthers zum Massenmord an den Bauern spricht, während er die Materialien seines toten Schriftstellerfreundes sichtet. Wolzogen glaubt sich zu erinnern, dass die SS diese Flugschriften Luthers während der sogenannten Kristallnacht, zu dessen 455. Geburtstag hat verteilen lassen. Was den Mann im sowjetischen Exil beruhigt, das ist die Niederlage der Deutschen bei Stalingrad: Der Krieg, das weiß der Offizier, wird nicht mehr lange dauern. Und ihm, dem deutschen Patrioten, ist der Sieg der Russen deshalb eine schmerzhafte Wohltat.
Wie Becker auf nur 500 Seiten diese Verknüpfung leistet, wie er die Linie vom lutheranisch geprägten Herrschaftswillen zu dem "von Generation zu Genration tiefer verblödeten Hohenzollerngezücht" zieht und zugleich eine andere, vom Emanzipationswillen der Bauern zum Widerstand gegen Hitlerdeutschland, das ist atemberaubend. Diesen Erzählwillen gestaltet er mit Ausflügen zu Marx und Kant, zu Freud oder Goethe oder wen er sonst in seiner üppigen Bildung findet, um den Roman damit anzureichern. In einer Einlassung vergleicht er das Ritual kommunistischer Selbstkritik mit den angeordneten Selbstmorden im römischen Reich, um seinem Erzähler anderenorts die Erkenntnis zu geben, dass mit der siegreichen Schlacht der Sowjettruppen um Berlin "der bessere Teil der Menschheit" triumphiert hatte. Und während sich Buch und Zweiter Weltkrieg dem Ende zuneigen, wird dem Luther noch eine schöne Hochzeitsbescherung bereitet.
Mit "Das ewige Haus" haben Autor und Verlag eine große, scharfsinnige und für die jüngere deutsche Literatur überraschende Lesereise angeboten. Wer sich auf sie einlässt, kehrt klüger zurück als er aufgebrochen ist.