Jungen machten das gerne: Vogelfedern sammeln, auch Schneckenhäuser und, was ein Glücksfund gewesen wäre, eine abgeworfene Geweihstange. Wie Totems hielten die Gegenstände die Plätze der Lebewesen. Hätte man doch den ausgestopften Falken besessen, den man in einer Kneipe gesehen hatte, welche Kraft hätte auf einen übergehen können. Vielleicht war Marcel Beyer so ein Junge, vielleicht fand deshalb ein Ornithologe, Ludwig Kaltenburg, der dem neuen Buch von Beyer den Namen gibt, als Hauptfigur sein Gefallen. Einer der die lebenden Vögel beobachtet und die toten ausstopft, einer der nicht selber eingreift, fast nur zuschaut, ein Wissenschaftler, dem auch die Menschen Material der Beobachtung sind.

Der Erzähler, Herrmann Funk, wird von Beyer, der seinen Personen nicht viel Persönliches angedeihen lässt, sogar mit einer Jugend in Posen ausgestattet, mit Eltern, einem Heim, in dem eines Tages Ludwig Kaltenburg auftaucht und dem scheinbar einsamen Kind eine Nähe zur Vogelkunde anträgt, die dem Jungen sein Leben bleibt und ihn zum Begleiter Kaltenburgs werden lässt, zur Sprechmaschine des Autors, der seinen Homunculus über Mauersegler reden lässt, über den Flug der Dohlen, über Mittel zur Präparation und natürlich und wesentlich über Kaltenburg, den er nach dem Willen Beyers nachzuerzählen hat, der auch wieder konzentriert über Vögel berichtet, lebende und tote, und der ein Präparat deutscher Geschichte ist. Sorgsam formalinisiert, ein Zeuge für zwei deutscher Diktaturen und einen Krieg dazwischen, der nahezu das ganze Dresden gekostet hat, den Hauptschauplatz des Buches "Kaltenburg".

Marcel Beyer kommt nicht aus Dresden. Überschwänglich bedankt er sich am Ende des Buches bei einer Dresdnerin, die ihm die Entdeckung Dresdens erst möglich gemacht habe. Beyers literarische Zutat ist die Dresdner Familie Hagemann. Die Hagemanns leben seit Generationen in der Stadt, wohl verzweigt stellen sie Gelehrte, Automobil-Händler, Zigarettenfabrikanten, sie sind ordentliche Leute, sie verfügen über einen Salon. Der Klara Hagemann, die den Erzähler heiraten wird und mittlerweile wußte, "was es bedeutete, eine Hagemann zu sein", wird immer übel, wenn sie Johannes R. Becher lesen muss. Möglicherweise als Gegenmittel stattet Beyer sie mit einer andauernden Sucht nach Proust aus. So wie Beyer ein angeeignetes Dresden erzählt, so hat er sich auch die Vogelkunde angeeignet und verarbeitet: Mit Fleiß und in einer nahezu makellosen, marmor-schönen Sprache, deren Kälte noch dem verbrannten, nach Tod stinkenden Dresden eine gewisse Ästhetik verleiht.

Schon früh ist zu ahnen, dass mit dem Professor Kaltenburg etwas nicht stimmt, zu glatt erschient die Figur, zu intensiv werden wir der Vogelkunde nahgebracht, zu deutlich klopft die reine Wissenschaft an die Tür, von der die Leser wissen, dass sie so rein nicht sein kann. Doch bis uns das unaussprechliche Geheimnis des Dr. Kaltenburg offenbart wird, werden wir bis gegen Ende des Buches warten müssen. Das ist der Spannungsbogen, von dem sich kein Pfeil abheben will, um ein Herz zu treffen. Der nachgeborene Autor ist zu loben, dass er sich der deutsche Geschichte zuwendet. Und wenn die Nazi-Diktatur nur Andeutung bleibt, widmet er sich der DDR bis in Einzelheiten: Die Noel-Field-Gruppe taucht auf, eine in den fünfziger Jahren vom sowjetischen Geheimdienst erfundene, feindliche Agentengruppe, die zum widerlichen, antisemitischen Slansky-Prozess in der CSSR führte, zur Ermordung einer Reihe von Kommunisten durch die Justiz und in der DDR zum tiefen Fall des SED-Funktionärs Paul Merker bis ins Zuchthaus, in dem er, der sich nachdrücklich für die Entschädigung der Juden eingesetzt hatte, als `zionistischer Agent´einsitzen wird.

Folgt man dem Autor, so soll Paul Merker ein "Weltpogrom" entdeckt habe, schon 1942, in Kenntnis sowjetischer Todeslager. Es ist schwer zu glauben, dass ausgerechnet Merker, der sich streitbar mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt hatte, das Wort Pogrom auf die sowjetischen Verbrechen an allen möglichen Bürgern, ungeachtet ihrer Herkunft, angewandt haben und so die Bedeutung des deutschen Judenmord verkleinert haben soll. Wahrscheinlich ist der recherchierende Autor einer Quelle aufgesessen und vielleicht auch dem konditionierten Gleichsetzungsmechanismus. Ganz sicher hat er die gefundene Geschichte als puren Stoff begriffen, als Material für ein zu konstruierendes Buch. Und während man dem Historiker nur den faktischen Fehler ankreiden würde, fragt man den Romancier natürlich nach dem menschlichen Drama. Merker bleibt irgendeine Figur, nützlich um den Gang des Buches zu treiben, eine gesellschaftliche Landschaft zu illustrieren.

Spät und diffus erfahren wir vom möglichen Verbrechen Kaltenburgs und erinnern: Es gab da doch den wirklichen Zoologen und Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Er wird Vorbild für »Kaltenburg« gewesen sein. Dem NSDAP-Mitglied sind rassenkundliche Studien nachgewiesen worden und eine blinde Stelle im Lebenslauf, als er Neurologie in einem Lazarett in Posen betrieb. Wir sind einer literarischen Schnitzeljagd gefolgt, von Wien nach Posen, aus dem Krieg in die DDR, aus der DDR in den Westen, die Spur war gelegt und jetzt, wenn wir die Auflösung lesen, gibt es ein Gefühl angeführt worden zu sein: Geführt in ein Raritätenkabinett der Geschichte. Tote Wesen sehen Dich mit ihren Glasaugen aus den Regalen der Sammler an. Flure mit Glaskästen voller Kreaturen ohne Erbarmen. Nie wird man ihnen Leben einhauchen können, sie sind kaum Beweise für früheres Leben, nicht einmal Mitleid flössen sie ein. Schlimmer noch: Sie haben keine Geschichte außerhalb der Wissenschaft.