Der wesentliche Wende-Roman sei Ingo Schulze gelungen, sagt sein Verlag und ein Echo davon findet sich in vielen Rezensionen wieder. Die Wende in der DDR war nicht weniger als Teil eines Weltereignis: Das sowjetische Imperium implodierte, die Zweiteilung der Welt fand ihr Ende, der sozialistische Feldversuch wurde, sieht man von Restbeständen ab, beerdigt und die USA bildeten sich zum globalen Hegemon heraus. Kein gesellschaftliches Ereignis seit dem Ende des zweiten Weltkrieges hatte ähnliche, welterschütternde Folgen wie eben die scharfe Wende vom Sozialismus zum Kapitalismus. Im Buch von Ingo Schulze findet sich davon nichts.

In einer Überfülle von Briefen, von der Hauptfigur des Buches, Enrico Türmer, vom Januar bis zum Juli 1990 fiebernd und geschwätzig formuliert, hätte sich, mit einem Besinnungsabstand von 15 Jahren, die historische Dimension der Weltenwende schon widerspiegeln können. Doch Türmer, dessen Lebensstationen denen des Autors nicht unähnlich sind, pflügt eher seinen Vorgarten denn ein weites Feld. Schon der heranwachsende Enrico weiß, im Rahmen eines religiösen Erweckungserlebnis, dass er eines Tages Schriftsteller werden wird und berühmt und es dann allen zeigen kann. Das genügt für einen Pubertierenden, das ist wenig für den Herangewachsenen, der nun verbotener Schriftsteller werden will, im Westen publiziert, um dann aus dem Osten ausgewiesen zu werden und es wiederum allen zu zeigen.

Dieser Lebensentwurf, nicht Schriftsteller sondern ein oppositioneller Schriftsteller zu werden, ist somit eng an die kleine DDR und ihren natürlichen Widerpart, die auch nicht so große Bundesrepublik gebunden. Deshalb muss sich Enrico Türmer vor dem Ende der DDR regelrecht graulen, denn: "Was soll ich, ein Schriftsteller, ohne Mauer?" Das lässt Schulz als scheinbarer Herausgeber der Türmerschen Briefe seine Figur fragen, die zwischenzeitlich vom Dramaturgen am Altenburger Theater zum Zeitungsmacher avanciert ist. Türmer predigt den Tod der Kunst, wenn die DDR, die er fleißig hasst, verschwinden würde: "Wenn ich als Hilfsarbeiter (im Westen) zehn- oder zwanzigmal mehr verdiene als ein Dramaturg, warum soll ich dann kein Hilfsarbeiter werden?"

Schulze lässt seinen Türmer das Schicksal der Kunst, im freien Fall aus der DDR in die Bundesrepublik, als pures ökonomisches Problem schildern. Wer seiner Figur einen so kleinen Horizont, eine so geringe Fallhöhe gestattet, der kann mit ihr die gesellschaftliche Reichweite der Wende nicht erfassen. Die DDR wurde, vor ihrem Ende, nur zweimal substantiell infrage gestellt: Einmal durch die Massenstreiks im Juni 1953 und zum zweiten mal durch die schweren Erosionen im Gefolge der Ausbürgerung Biermanns 23 Jahre später. Die DDR war ein Leseland, eine Filmlandschaft, eine Maler- und Theaterkulisse. So arrogant die SED-Führung häufig mit Künstlern umging, so empfindlich war sie für deren Kritik. Kein Liedermacher hat die Bundesrepublik je erschüttern können, kein Schriftsteller konnte die westdeutsche Regierung je zu Verboten provozieren.

Die intellektuellen Wurzeln der DDR lagen in den Debatten der europäischen Intelligenz des vergangenen Jahrhunderts. Der größere Teil der während der Nazizeit emigrierten Intellektuellen hatte in der DDR ein widersprüchliches Zuhause gefunden. Brecht, Eisler und die vielen anderen wirkten, wie auch immer an der Gründung des ostdeutschen Staates mit. Zwar hatte die politische Führung um Honecker keineswegs eine besondere Nähe zu Kunst und Kultur, aber wer sich ständig auf das Geistesleben der Opposition gegen Hitler berief, der war durch die Intelligenz im eigenen Land verwundbar. Davon bei Schulze keine Spur.

Die farbigste Gestalt des Wende-Romans ist der umtriebige, dem Westen entsprungene Unternehmensberater Barrista, ein Deus ex machina, der dem beschaulichen Altenburg des Enrico Türmer ein Wirtschaftswunder nach dem anderen beschert. Mit vollen Händen teilt er Wohltaten aus, macht diesen reich oder jenen, beschert dem Türmer den Besitz eines Anzeigenblattes und dem Leser des Romans eine orgiastische Beschreibung der Entstehung eines Layout und weiß das neue Leben zu deuten: "Die Erfahrungen von heute werden nicht im Theater gemacht, sondern im Geschäft, auf dem Markt." Eine heitere Stelle, erinnert sie doch den DDR-Kenner daran, dass die Politruks der Ost-Republik gerne ähnliches über das Verhältnis zwischen Kunst und Produktion zu sagen wussten.

Wer 15 Jahre danach dem siegreichen Kapitalismus mit seiner Figur Barrista nichts anderes zu attestieren weiss als Zucht und Völlerei, dem rutscht die Literatur in die Kolportage, dem mag eine Momentaufnahme der Zeit gelungen sein aber nicht das, wofür Kunst immer noch steht: Durchdringung eines Themas zugunsten der Erweiterung von Gefühl und Verstand. Dieser, für Schulze, den Autor der "Simple Storys", erstaunliche Verfall, zeigt sich am klarsten in einer Fülle von kleinlichen Fußnoten, die der vermeintliche Herausgeber der Türmer-Briefe dem Leser antut: Mal wird eine Datum korrigiert, dann das Ende eines Briefes vorweggenommen oder dem Briefeschreiber ein Vorwurf gemacht, so, als würde der gewollte Wegfall eines Lektorats einen gekonnten Spannungsbogen ersetzen können.

Im Anhang des dickleibigen Bandes finden sich dann noch literarische Versuche Türmers, deren leere Rückseiten er als Briefpapier genutzt haben soll. Obwohl diese komplizierte Konstruktion eher ermüdend wirkt, finden sich in diesen Schnipseln Anklänge an das, was Ingo Schulze eigentlich kann: Dichte Erzählungen, die ins Epische ragen, Geschichten von Qualität zu schreiben. Zu spät, denn bis dahin ist das "Neue Leben" längst in den Sand kleinteiliger Beschreibung gesetzt worden, hat sich die Geschichte in Geschichtchen aufgelöst, ist die historische Einmaligkeit der Wende zur Beliebigkeit geraten.

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