Die Weimarer Republik sei von »Politkern des Mittelmaßes« geprägt gewesen, ausnahmslos alle hätten sie Hitler unterschätzt, glaubt Hans-Magnus Enzensberger in seiner jüngsten Doku-Fiktion »Hammerstein oder der Eigensinn« und handelt über deutsche Geschichte, um sie munter zu ignorieren. »Alle, und nicht zuletzt die Kommunisten, haben seine (Hitlers) destruktive Energie und seine Skrupellosigkeit unterschätzt«. Dass es herausragende bürgerliche Politiker gab wie Rathenau, dass die KPD zur Reichspräsidentenwahl die leider völlig realistische Parole "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt, wählt Krieg!" herausgab, ist an Enzensberger irgendwie vorbeigegegangen. Das Verlegenheitswort »irgendwie« trifft auch auf Enzensbergers zentrale Figur zu, den General Kurt von Hammerstein-Equord, Chef der deutschen Heeresleitung, der nach Hitlers Machterschleichung von seinem Amt zurücktrat und im Buch irgendwie zum Gegenspieler Hitlers ausgebaut werden soll.
Kurt vom Hammerstein, Zögling einer preußischen Kadettenanstalt, Freund des dubiosen Militärs, Strippenziehers und späteren Reichskanzlers von Schleicher, war, trotz seiner engen Verbindung zur preußischen Kasino-Kaste, ein relativ unabhängiger Kopf. Diese relative Unabhängigkeit ließ ihn im letzten Moment vor Hitlers Plänen zurückschrecken. Aber sie reichte nicht aus, sich wesentlich von seinen Standesgenossen zu unterscheiden: Man wollte zwar die Juden nicht umbringen, aber antisemitisch war man schon, man fand zwar den »Gefreiten« Hitler ziemlich gewöhnlich, aber die Weimarer Republik nicht überlebenswert, man wollte nicht unbedingt einen Weltkrieg beginnen, aber die später von Hitler zum Vernichtungskrieg genutzte Reichswehr, die baute man tapfer aus: »Wir wollen´s langsamer.«, zitiert Enzensberger den obersten General des Heeres zu den Plänen Hitlers, »Sonst sind wir eigentlich einer Meinung.«
Enzensberger präsentiert uns den Hammerstein als bequemen Gemütsmenschen: Zigarren raucht er gerne, geht auch lieber zur Jagd als ins Büro, lässt seinen Kindern alle Freiheiten, die Töchter dürfen sogar mit den Kommunisten sympathisieren, er selber hatte lange ein entspanntes Verhältnis zur Roten Armee. Denn die Reichswehr testete, in einer Zeit, in der ihr durch den Versailler Vertrag vieles verboten war, neue Waffen auf dem Boden der Sowjetunion, bildete eigene Flieger aus und Offiziere der Roten Armee. Drei Monate reiste der General durch Russland und begriff den Staat als »wirtschaftlichen und politischen Machtfaktor, mit dem jeder europäische Staat rechnen muss.« Hammerstein ist nicht der erste Reichswehroffizier, der die illegale Aufrüstung Deutschlands vorantreibt, das verbotene und gefährliche Spiel läuft bereits seit Anfang der Zwanziger Jahre. Was mag den Autor bewogen haben, sich der Figur des Freiherrn literarisch zu nähern, ihn mit posthumen Interviews und Glossen in ein persönliches Verhältnis zu setzen? Einen relativ deutlichen Hinweis gibt das Kapitel »Einiges über den Adel«.
Der Autor bewundert das blaue Blut, dessen »Lebenskräfte auch nach dem Funktionsverlust des Adels nicht erloschen sind«. Er mokiert sich über die Linken, die noch heute auf die »Junker« schlecht zu sprechen seien, lobt altertümliche Tugenden und erinnert, dass auf der Liste der Beteiligten am Attentat des 20. Juli 1944, »mehr als siebzig Adelsnamen auftauchen«. Was er nicht erinnert, ist die Ablehnung der entschädigungslosen Enteignung der deutschen Fürsten durch die NSDAP und in diesem Zusammenhang den Satz Hitlers: »Für uns gibt es heute keine Fürsten, nur Deutsche.« Ähnlich wie Fest in seinem letzten Buch das deutsche Bürgertum aus seiner Komplizenschaft mit Hitler herausschreiben wollte, gibt uns jetzt Enzensberger den Adelsretter aus der nazistischen Symbiose, der Paktiererei zwischen Adel, Militär und eben jenem »Gefreiten« den man so sehr verachtete, dass man seinen Vorteil aus ihm und seinem Regime zog.
Seltsam dekonzentriert springt die Arbeit Enzensbergers vor und zurück, verlässt im letzten Drittel des Buches den General und wendet sich seiner verzweigten Familie zu, politisiert hier und privatisiert dort, um sich einmal grundsätzlich dem deutsch-russischen Verhältnis, vom Bündnis gegen die Französische Revolution, über Bismarcks russische Rückversicherung bis zum Irak-Krieg zu widmen. Obwohl die Deutschen doch längst im Westen angekommen seien, hätte es »chimärische Versuche« der Regierung Schröder während des Zweiten Irak-Kriegs gegeben. Nach Enzensberger war die Ablehnung dieses Kriegs ein Hirngespinst und nichts weniger als die Herausbildung einer Achse Paris-Berlin-Moskau. Nun wissen wir von Enzensberger, dass er sich beharrlich an der Seite George Bushs aufhält, wenn es um den Irak-Krieg geht. Weder die nichtigen Kriegsvorwände noch die bekannten Folgen konnten ihm seine Begeisterung für den Schrecken ohne Ende im Irak austreiben. Auch Fragen, warum denn die USA den Gewaltherrschaften in Saudi Arabien oder in Pakistan kein Ende machen wollten - kaum weniger üblere Diktaturen als jene im Irak - fochten den durchaus gebildeten Autor bisher nicht an. Und während er den Gegnern des Irak-Krieges die Verwechslung von Politik und Moral vorwirft, gelingt es ihm nicht zu begreifen, dass den Europäern, wollen sie denn gegenüber den USA Luft zum Handeln haben, nichts anderes übrig bleibt, als zuweilen die Moskauer Karte zu spielen. Das ist der Preis für relative Unabhängigkeit. Der Preis für eine Treue zu den USA ist größer, sie kann einen um den Verstand bringen.