Wer stürmt so kühn den Himmel an?
Das ist der Leutnant Immelmann.

»Der Flug ist das Leben wert«, steht auf dem Grabstein der Fliegerin. Ach, ja? Ihr eigenes, mag sein. Der Findling mit dieser Inschrift liegt auf dem Invalidenfriedhof in Berlin. Hier liegen sie alle: Generäle, Kriegsminister, Fliegerasse wie Udet und Mordspezialisten wie der SS-Heydrich. Aber auch Karl Rabitz, der Erfinder der Rabitzwand. Der spielt in Uwe Timms Roman »Halbschatten« keine Rolle. Es sind die Geschichtsmächtigen und Geschichtsträchtigen, die der Autor in einer chorischen Tragödie inszeniert, es ist der deutsche Donnerhall, der ihn und uns aus dem von Friedrich dem Grossen angelegten Friedhof anweht. Es ist das das Kaleidoskop deutscher Geschichte, das Timm dreht und dessen farbige Objekte bei jeder Bewegung ein neues Bild erzeugen.

Marga von Etzdorf, die Fliegerin, mit 25 Jahren ist sie von eigener Hand gestorben, sie ist eine von denen, die Timm vor den Chor der raunenden Toten treten lässt, eine, die Zeugnis ablegt über sich und ihre Zeit. Sie war die erste weibliche Co-Pilotin der Lufthansa. Und sie mochte diesen Geruch: »Auspuffgase, Öl, Benzin«. Sie war das seltene, weibliche Muster einer ungebremsten Fortschittsgläubigkeit, jener Sorte von Progress, der in den Zwanziger und Dreissiger Jahren, unterhalb einer tümelnden Oberfläche, eine Modernisierung vorantrieb, die immer schnellere Autos und immer weiter reichende Flugzeuge als Symbole besaß. Der kräftige Schub der Begeisterung stammte noch aus dem ersten großen Krieg, als Flieger wie von Richthofen, der Rote Baron, in scheinbar ritterlichem Kampf ihre Gegner vom Himmel holten. Die Weimarer Republik holte ihn 1925 aus seinem Grab in Frankreich heim: Für einen feierlichen, vaterländischen Akt auf dem Invalidenfriedhof.

Es sind Tote, die mit Timm reden, die Timm reden lässt. Zur Etzdof gesellt sich Christian von Dahlem, auch ein Flieger, vor allem aber der Dialogpartner der Etzdorf: Eine lange Nacht verbringen sie, durch einen Paravant getrennt, in einem Haus in Japan, als die Fliegerin, während einer ihrer Langstreckenflüge, in Hiroshima landet. Dahlem gibt die noble Variante des nationalen Deutschen. Der hatte mal den Herzog von Coburg vor den revolutionären Matrosen gerettet, damals, als die Deutschen beinahe eine Revolution gemacht hätten. Aber später, mit den Braunen gehen? Das waren nicht seine Leute, da machte er »einen feinen Unterschied». Dass ihn Timm zeigt, wie er sich im Frühjahr 1943 zu einem jüdischen Freund bekennt, lässt den Unterschied schärfer hervortreten. Dahlem ist sicher, dass sich Marga von Etzdorf aus Ehrgefühl gemordet hat. Ehrgefühl: Ein zu Recht, wegen ständiger missbräuchlicher Verwendung, ausgestorbenes Wort. Das Gefühl hat hie und da überlebt.

Zwei Cicerone begleiten den Schriftsteller auf seinem Weg über den Friedhof, auf seiner Reise durch die deutschen Verwerfungen. Der eine, der Graue genannt, schattenhaft wie die meisten Bewohner des Totenreichs, ist eher ein Stichwortgeber, einer des knappen Kommentars. Der andere ist der Komödiant: Anton Miller, Schauspieler, Zauberer, Unterhalter. Er kannte die Fliegerin und auch von Dahlem, er hat was zu erzählen. Wenn man ihn braucht ist er da, immer gut für eine Pointe. Seinen letzten Witz, einen über Hitler, erzählt er in den letzten Tagen des vorläufig letzten Krieges der Deutschen auf eigenem Boden. Dann hat man ihn an einer Laterne aufgehängt.

Aus dem Gewirr von Stimmen treten immer wieder einzelne hervor: Kaum Bekannte, wie der Leutnant Friesen aus dem Lützowschen Freikorps, ein Mitgründer der Turnbewegung und Kämpfer gegen Napoleon. Unbekannte, wie ein Berliner Chauffeur, der auch mal den Stauffenberg gefahren hat und nachher bei der Gestapo nichts wußte, genug wusste, um zu schweigen. An Berüchtigte erinnert der Chor, wie Hanna Reitsch, auch eine Pilotin, die versucht hatte den Hitler aus dem eingeschlossen Berlin zu fliegen. Bilder um Bilder bringen die Figuren des Autors hervor und manchmal verrutschen sie ins Mitleid, wie jenes vom toten Mussolini und seiner Geliebten, an den Beinen aufgehängt auf dem Piazzale Loreto in Mailand. Auch ein Germanist findet sich im Ensemble der Toten, einer, der die fremden Wörter eindeutschte, dem »Enterdung« einfiel für Exhumierung, weil das fremde Wort »bei größeren Vorhaben, beispielsweise bei tausend Körpern, völlig fehl am Platz« sei.

Ein Japaner ziert den Chor, von Flucht und Vertreibung wird erzählt, von Menzels Bild »Ansprache Friedrichs II. an seine Generäle vor der Schlacht bei Leuthen (1757)« und vom Führer der Eisernen Schar, einem den Kapp-Putschisten. Auf dem Friedhof sind sie versammelt, die Spolien deutscher Geschichte, mit denen Timm ein neues, altes Haus aus Worten baut, keines, in dem man unbedingt wohnen möchte, eines, das man gelesen haben sollte. Der Friedhof, inzwischen zum Park gegärtnert, liegt so, wie nur ein Ort in Berlin liegen kann: Die Mauer stand hier, Reste sind noch zu sehen. Nicht weit entfernt gibt es, auf einer Brache, den größten Supermarkt für mediterranes Essen und Trinken. Die Bundeswehr hat, der Tradition folgend, fast direkt am Friedhof ein Krankenhaus. Schräg gegenüber will ein Investor Stadtvillen bauen. Ein nahe liegender, ehemaliger Bahnhof birgt die Kunstsammlung des Enkels eines deutschen Kriegsverbrechers. Mit Geld aus der Arisierung erworben. Der märkische Sand, nur dünn mit Gras bewachsen, saugt alles auf, Blut, Schuld, Vergangenheit.

Als ich noch ein Kind war, nach dem Krieg, konnte ich alle deutschen Flugzeugtypen hersagen: Die Me 109, die He 111, die Ju 87, das war der Sturzkampfbomber. Auch wußte ich, dass wir Deutschen den Düsenjäger erfunden hatten. In unserem Briefkasten fanden sich monatlich kleine Hefte, die vom Verein der ehemaligen Jagdflieger herausgegeben wurden. Immer noch war Werner Mölders, der auch auf dem Invalidenfriedhof liegt, der große Held: Das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten durfte er tragen. Mölders hatte schon im spanischen Bürgerkrieg auf der falschen Seite gekämpft. Woher sollte ich das wissen. Irgendwann schrieben sie in den Heften über den Leutnant Immelmann, einen Kampfflieger des ersten Weltkrieges. Der patriotische Vers zu Immelmann brachte mich zum Lachen. Ich war geheilt.

PS
Welche Bewandtnis die über den Text gestreuten Haikus haben, die am Ende des Buches aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt zu lesen sind, das kann Uwe Timm persönlich erläutern: Am 4. September wird er in der Berliner Akademie der Künste, am Pariser Platz, um 20.00 Uhr, sein Buch präsentieren.