Macht man das? Eine Rezension zu rezensieren? Und nicht einmal das dazu gehörende Buch gelesen zu haben. Ein feiner Mensch wie Frank Schirrmacher, Feuilleton-Chef der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« würde das nie tun. Der fände das wohl degoutant. Aber sonst ekelt er sich vor gar nix. Denn ab gleich druckt die »FAZ« Jonathan Littels aus dem Französischen übersetzten Roman »Die Wohlgesinnten« ab, die hochkomplexe Innensicht eines fiktiven SS-Mannes und Judenschlächters. Weil, wie der Herr Schirrmacher im Vorspann seiner Rezension ankündigt, das Buch den Versuch unternimmt, »zu erklären, was uns bis heute unerklärlich erscheint.«

»Genau das war es«, zitiert Schirrmacher den SS-Obersturmbannführer aus »Die Wohlgesinnten«, »was mir unerklärlich blieb: die Kluft, die absolute Unverhältnismäßigkeit zwischen der Leichtigkeit, mit der es sich tötet, und der unendlichen Schwierigkeit, mit der gestorben wird. Für uns war es ein schmutziges Tagewerk unter vielen, für sie das Ende von allem.« Bemerken Sie die »unerhörte Präzision«, die »kunstvoll übereinanderliegenden Schichten«? Nein? Dann fehlt Ihnen einfach die Schirrmachersche Sensibilität, jene gebeugte Seelenhaltung, mit der die Nase immer das Arschloch des Zeitgeistes berührt.

Wir hatten schon Bruno Ganz, der mit einer schnarrenden Hitlerkarikatur ein billiges Abziehbild vom Ende der faschistischen Schweinerei in die Kinos trug: »Söhen So wö die Rrreichshouptsstadt brönnt? Oin errhobenös Schouspöl!« Uns wurde von Helge Schneider und Ulrich Mühe das herzige Verhältnis Hitlers zu seinem Hausjuden präsentiert, Guido Knopp ist inzwischen jeden Abend mit Hitlers Hunden, Hitlers Blumen oder Hitlers Zehennägeln auf Sendung, um aus Geschichte Seife herzustellen und nun Schirrmacher, der uns die Banalität des Bösen als hochkomplizierte Seelenqual der Täter nahe bringen will und zum Bequasseln einlädt.

»Er,« der auf 1381 Seiten intensiv beschriebene Obersturmbahnführer, »fotografiert den Elbrus im Sonnenaufgang, und am Abend fotografiert er die ermordeten Juden«, lässt uns Schirmacher wissen. Es ist die unerträglich tiefschürfisch-raunende, agnostisch wichtigtuerische, bildungsbürgerlich-verschmiemelte Art, in der Schirrmacher hier offenbart, dass er von den wahnsinnigen Abgründen des Judenmord eigentlich erst jetzt zum ersten Mal so richtig etwas erfährt, und zwar aus dem fiktionalen Werk eines französischen Autors. Das Besondere an diesem "enzyklopädischen Roman" sei, dass er aus der Sicht der Täter geschrieben wurde. Genau das, nämlich eine enzyklopädische, allerdings nicht-fiktive Dokumentation des Judenmords, aus der methodisch angenommenen Sicht der Täter, verfasste schon 1960 der in die USA emigrierte Historiker Raul Hilberg - ein Buch, das jahrzehntelang in Deutschland keinen Verleger fand.

Bis heute aber wird Hilberg, im Unterschied zu solchen Zweitverwertern wie Goldhagen praktisch kaum erwähnt, wenn es außerhalb des engeren akademischen Bereichs um die Holocaust-Forschung geht. Dabei ist sein Werk in seiner sprachlichen Genauigkeit und unsentimentalen Deutlichkeit in seiner Wirkung auf den Leser weitaus intensiver als jeder Roman - gerade was die "Widersprüchlichkeit" der Täter (morgens Selektion an der Rampe, abends Violinkonzert von Beethoven) anbelangt. Aber bei Hilberg wird es dokumentarisch beschrieben und belegt, es kann nicht als "Kunstwerk" in die Verdrängung sublimiert
werden. Und darüber gibt es dann auch nichts mehr national-grüblerisch zu reflektieren.

Weil Frank Schirrmacher aber als Nachgeborener der Tätergeneration sich immer noch stärker mit jener identifiziert als mit deren Opfer, benutzt er die erste Person Plural, wenn er das Buch mit »Wir sind berührt«, resümiert und deshalb sorgt er sich um die sachlichen Schwierigkeiten, unter denen der beschriebene Täter leidet und die ihn noch in der Lebensbeichte »entmündigt«. Dass die FAZ dieses Buch ins Netz stellt und eine Diskussion entfachen will, ist sowohl ein Beitrag zur Geschwätzigkeitskultur, als auch einer zur fortgesetzten Mystifizierung des Banalen und zur Verdrängung der schlichten Wirklichkeit, die da lautet: Die mörderische SS wurzelte tief im Mutterboden des gebildeten deutschen Bürgertums. Punktum. Das sollten die nachgeborenen Deutschen schweigend zur Kenntnis nehmen und diese Erkenntnis dann in ein moralisches Postulat für gegenwärtiges politisches Handeln begreifen, statt sich grübelnd den Kopf über die vorgeblichen Seelenqualen ihrer mordenden Vatis und Opis zu zerbrechen.

Mit einer solchen Instruktion den Teilabdruck des Romans von Littel in der FAZ anzukündigen, das, Herr Schirrmacher, wäre eine wahre patriotische Tat gewesen! So ist es nur ein weiterer verachtungswürdiger Versuch in der ganzen ekligen Reihe der Relativierung und Historisierung deutscher Verbrechen, diesmal daherkommend in der Pose reichlich verspäteter Betroffenheit.