Eine Szene wie geschaffen für ein Happyend: Eine großzügige, elegante Altbauwohnung in Genuas bester Wohnlage, voller nobel gekleideter und fröhlich zechender Gäste. Gastgeber Michele Oliveri, Gründer und Mitinhaber einer Firma für Schiffsausrüstungen und ganz Mann von Welt, feiert seine Frau Elsa als frisch gebackene Doktorin der Kunstgeschichte. Sein Wohlstand hat ihr das Studium ermöglicht, nun kann sie sich ganz ihrem brotlosen Hobby widmen, ein altes Fresko in einer Kapelle zu restaurieren und so beider Ansehen in der feinen Gesellschaft Genuas zu mehren. Als Filmanfang könnte im Drehbuch stehen: Die Kamera blickt von ganz oben aus der Kuppel der Kapelle auf Elsa und Michele, die rücklings neben einander auf dem nackten Marmorboden liegen und auf das Fresco schauen, ein wenig erschöpft und müde, aber einig über die vor ihnen liegenden Aufgaben.

Zwei Szenen aus „Tage und Wolken“, dem neuen Film des mit „Brot und Tulpen“ zum Liebling der Programmkinos aufgestiegenen italienischen Regisseurs und Drehbuchautors Silvio Soldini. Doch der stellt die dramaturgischen Prinzipien vom Kopf auf die Füße und platziert jene zwei Szenen genau umgekehrt - das vermeintliche Happyend steht am Anfang seiner Geschichte, und mit dem Blick aus der Kuppel entlässt uns sein Film in, ja in was eigentlich? In eine trübe, gar fatale Zukunft für ein einst glückliches Paar? Oder in ein Happyend der anderen Art, weniger luxuriös, aber beglaubigt durch die realistisch nüchterne Sozialkritik in Soldinis Film? Dem dramaturgischen Szenentausch entspricht der Wechsel der Erzählperspektive: Die meist von Hand geführte Kamera (Ramiro Civita) folgt dem Paar aus nächster Nähe, sie zieht den Zuschauer in das Geschehen hinein und lässt ihn den sozialen Abstieg der Beiden fast physisch mit erleiden. Und so, wie Elsa das Fresco Schicht um Schicht restauriert und sein wahres Wesen freilegt, so legt Soldini Szene für Szene das wahre Wesen der kapitalistischen Wolfsgesellschaft in der Krise bloß. Wie auch immer man sein Schlussbild deutet, mit ihm beginnt jedenfalls eine neue Etappe in Leben und Liebe der beiden Hauptfiguren, und nach allem, was ihr voran ging, besteht für Zukunftsoptimismus wenig Anlass.

Die Krise im Familienkreis als Spiegelbild der gesellschaftlichen, ja der Systemkrise - Soldinis Film ist einer von jener raren Sorte, die man längst ausgestorben wähnte. Er erzählt von sozialer Deklassierung und ihren psychischen Folgen vor dem Hintergrund der ökonomischen Krise seines Landes. Am Morgen nach der Party gesteht Michele seiner Frau, dass ihn sein Kompagnon Roberto schon vor zwei Monaten ausgebootet und die Firma an einen Großkonzern verkauft hat – vorbei ist’s mit dem Luxusleben und der versprochenen Kambodscha-Reise, vorbei auch mit dem großen Haus, dem eigenen Segelboot und mit Elsas Hobby. Denn während Michele vor Verwandten und Freunden weiter den spendablen Erfolgsmenschen zu spielen sucht, hat Elsa die neue Lage nüchtern erfasst und sich Jobs gesucht, um wenigstens Essen auf den Tisch zu bringen. Den Umzug in einen hässlichen Wohnblock bewältigen sie – welch eine „Schande“ für den „Chef“ Michele! - mit Hilfe von Luciano und Vito, zwei Arbeitern, die Roberto schon vor ihm entlassen hatte und die sich so ein paar Euros zur kargen Stütze hinzuverdienen. Michele selbst, von Elsa gedrängt, sich ebenfalls einen Job zu suchen, durchlebt deprimierende Bewerbungsgespräche mit arroganten Personalchefs, für die seine Berufserfahrung nur als „Überqualifikation“, also Hindernis gelten. Also erledigt er – Not lehrt Solidarität - mit Luciano und Vito in der neuen Nachbarschaft kleine Gelegenheitsjobs – bis auch dieses „Unternehmen“ platzt, weil die beiden in feste, wenn auch schlecht bezahlte Arbeit vermittelt sind.

Schon solche Thematik wäre Grund genug für „Linke“, mal endlich wieder ins Kino zu gehen, auch wenn sich ihr Mitgefühl für einen Unternehmer, der sein Segelboot verkaufen muss, sicherlich in Grenzen hält. Doch Soldini weiß derlei „Klassen“-Vorbehalte geschickt zu unterlaufen. Zwei grandiose Hauptdarsteller (Antonio Albanese und Margherita Buy) loten präzise alle Untiefen aus, in die die Krise ihre Figuren stürzt. Mit kleinen Gesten mehr noch als mit Worten verletzen sie einander, trennen sich und finden doch wieder zurück. Mit differenziert gezeichneten Nebenfiguren bringt Soldini die reale Welt ohne Klischees ins Spiel, und selbst Micheles Freund und Kompagnon Roberto erscheint bei all seinem rüden Egoismus immer noch wie ein getriebenes Opfer einer Gesellschaftsordnung, die für den Profit über Leichen geht. Man kann Marx’ „Kapital“ auch so verfilmen!