»Der 11. September schwebt über uns wie der vorletzte chilenische Kondor. . . Manchmal habe ich das Gefühl, dass der 11. September uns dressieren will.« Diese Sätze lese ich in einem schmalen Band aus dem Hause Berenberg und der Autor, Roberto Bolano, im Alter von 50 Jahren schon verstorben, ist kaum schuld, wenn ich das Datum als Nine-Eleven lese, jenes Gottesdatum, dass uns eine neue, schöne Welt erschaffen hat, in der das Ausziehen von Schuhen beim Besteigen von Flugzeugen der witzige Teil der Schöpfung ist, während die Hysterie, die in meinen Computer kriecht, die Bilder aus Guantanamo und Abu Ghraib, zum Aberwitzigen, zum Schauerlichen des vorgeblichen Kampfes gegen Terror gerechnet werden muss.
Was ich als Datum der Apokalypse im BILD-Zeitungsformat lese, ist in Wahrheit der 11. September des Jahres 1973, der Tag an dem die chilenische Armee unter Pinochet, mit freundlicher Unterstützung der USA, gegen den Präsidenten Allende putschte. Und es waren keine Araber, die den tausendfachen Tod, das Foltern, Morden und Schänden in Chile mit ihrem religiösen Gewissen vereinbaren mussten. Es war ein christlicher, deutscher Innenminister, der den 40.000 Gefangenen im Behelfs-KZ »Estadio Nacional« in der chilenischen Hauptstadt zynisch zurief: »Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm«. Mit zunehmendem Alter steigt bei mir die Gewaltbereitschaft. Doch die Fähigkeit zur Gewalt sinkt, leider.
Ein Mitglied der MIR, einer nachdrücklich linksradikalen chilenischen Formation, schreibt Bolano, hatte er getroffen, man habe ihr Ratten in die Vagina eingeführt, irgendwann in den fast 20 Jahren Pinochet-Herrschaft nach dem 11. September, erzählt die Frau ihm. Und dann rätselt er darüber, was denn gewesen wäre, hätte es diesen 11. September nicht gegeben und fürchtet, die Frau wäre in einem linken KZ gelandet und er, der »Dichter ohne Klassengeist« hätte sie dort treffen können, aber die chilenische Linke habe einfach keine Zeit gehabt, »ihr eigenes Böses zu schaffen.«
Chile, mein Chile. Der 11. September 1973 hat einen regnerischen, grauen Morgen und wir fahren von Berlin DDR zum Petrol-Chemischen Kombinat nach Schwedt. Der Bus, aus ungarischer Produktion, heißt Ikarus. Unter Störungen eine Stimme aus dem Bus-Radio: Bomben auf den Präsidentenpalast in Santiago, wenig später hören wir vom Tod Allendes. Die Leute im Bus kommen aus dem Westen. Chile, dass galt ihnen als der große Versuch, eine Sorte Sozialismus ohne Diktatur aufzubauen, den Rechten, den USA und dem Militär mit dem Stimmzettel den Willen der Mehrheit zu diktieren. Verbrannt die Schwingen politischer Phantasie, gestorben das friedliche Begehren. Zumeist Ältere, auch Männer mit Bäuchen, ziehen im Hof des Kombinats auf, bewaffnete Arbeiter.
»Was, wenn wir alle Exilanten wären?«, fragt Bolano in einem traurigen Aufsatz über das Exil. Was er meint: Man kann auch im eigenen Land im Exil sein und auch, dass einer »ein Buch aufschlägt« und sein Exil im Lesen findet. Bolano, der als 15-Jähriger, nach einer blutig niedergeschlagenen Studentenrevolte mit seinen Eltern Chile in Richtung Mexiko verlässt, dann, als die Regierung Allende die Geschäfte übernimmt, zurückkehrt, um als Zwanzigjähriger das Land, auf der Flucht vor der Verfolgung durch Pinochet, erneut zu verlassen, starb in Spanien. Die Ursache könnte eine Überdosis an Exil gewesen sein, jene Fremdheit, die einer ausgesetzt ist, der in kein Raster passt, in keines passen will.
Einmal, bei einer seiner vielen Lesereisen, besucht Bolano die Stadt Teruel, jenen legendären Ort, um den herum die Entscheidungsschlacht im spanischen Bürgerkrieg tobte. Längst ins Vergessen gefallen ist der lange, blutige Kampf zwischen der spanischen Republik und den faschistischen Truppen Francos, nicht aber einem spanisch schreibenden Schriftsteller. Er spricht mit dem Denkmal eines unbekannten Stiers über die Stadt, der wissen will, ob denn Teruel existiert oder nicht. Doch bevor der Autor antworten kann, ändert der Stier seine Meinung: »Nein, sag es mir lieber nicht.« So wie das moderne Spanien es nicht so genau wissen will: Denn die Sieger im Bürgerkrieg, die Erben Francos leben noch und sie leben gut und kaum ein Denkmal erinnert an die, die versucht haben eine Republik mit ihrem Leben zu verteidigen und es dabei verloren. Vielleicht existierte ja der Krieg nicht. Oder auch nicht das moderne Spanien.
Der Verleger Heinrich von Berenberg ist auch der Übersetzer von »Exil im Niemandsland«, so wie er schon eine ganze Reihe von Bolanos Texten übersetzt hat, unter ihnen der viel gerühmte Roman »Die wilden Detektive«. Berenberg ist dem melancholischen, zugleich ironischen Autor sehr zugetan. Und wenn man die anrührende Geschichte eines Süchtigen auf Entzug liest, zum Beispiel, oder jene über Patagonien, oder noch mehr und mehr, und sich nicht fürchtet, wenn es sehr eingemacht hergeht und über spanischsprachige Literatur, dann wird man den Verleger gut begreifen können. Denn Bolano gehört zu denen, die aus dem Erinnern Worte schöpfen, Denken anstoßen, Literatur leisten.