Es ist spät im Jubeljahr, dem vierzigsten nach dem berühmten, berüchtigten, dem Jahr, in dem im Westen Deutschlands angeblich vieles anfing oder aufhörte: Sitte, Ordnung und auch Disziplin nach der einen, Geschichtslüge, Emanzipation und Gehorsam nach der anderen Lesart. Wer nach deutschen Weinen aus diesem Jahr stöbert, wird nichts finden. Kein guter Jahrgang? Doch einer aus 1964 ist noch zu bekommen, eine Auslese aus Rheinhessen: Alzeyer Galgenberg. Immerhin 95 Euros muss man dafür auf den Tisch legen. Da sind die Bücher der Autoren André Müller sen. "Am Rubikon" und Jürgen Hofmann "Those were the days my friend" deutlich preiswerter.
Natürlich ist das Jahr 1968 ein willkürlicher Termin, wahrscheinlich wieder einer dieser Trends oder Jahrestage, wie der SPIEGEL sie in Serie beschliesst, verwirft, fabuliert. Und doch hat das Hamburger Magazin mehr mit dem Ursprung der 68er Legende zu tun, als man heute annehmen mag: "Der Spiegel", stieß Martins Vater in Hofmanns Buch mit ungezügelter Wut hervor, "ist und bleibt ein Schmutzblatt". Es ist ein westdeutscher Weihnachtsabend 1962, der Herausgeber des Blattes sitzt wegen angeblichem Landesverrat noch im Gefängnis, und der Zoff der Generationen hat begonnen. In vielen deutschen Städten gehen zumeist jüngere Leute auf die Straßen, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen, eine ausserparlamentarische Opposition beginnt sich zu formieren und Martin studiert in Westberlin. Auch die anderen 68er-Geschichten Jürgen Hofmanns werden dort spielen und alle sind sie nach Frauen benannt.
Der Rubikon, an dem André Müller seine Kommune V wohnen lässt, rinnt auch durch Westberlin, jener schrecklichen Halbstadt in der angeblich alles geschah, was auch immer. André Müller, der über Shakespeare gearbeitet hat, staffiert mit seiner fiktiven Kommune, einer Wohngemeinschaft mit irgendwie linken Zielen, seine Bühne aus: " Die Kommunen," deklamiert eine Kommunardin, "sind die Keimzelle des kommenden Umsturzes, der als Umsturz eines Landes beginnt und als Weltumsturz endet." Zur Kommune stößt ein Kleinkrimineller, der sich als Brechtschüler ausgibt und einen Verwandten bei der NPD hat, in der Kommune hockt außerdem ein Polizeispitzel, der von einem Beamten der politischen Polizei namens Biermann (!) gesteuert wird. Das Personal ist angerichtet. Und während im wirklichen Westberlin, wenn auch nicht alles, so doch vieles geschah, wird in Müllers Kommune V Wirklichkeit gespielt.
Nikola, Britta, Peggy, Marta und Tina heißen die Kapitel bei Jürgen Hofmann, und immer ist der jeweilige männliche Ich-Erzähler unsterblich verliebt und spätestens am Ende der politischen Lovestorys kriegt er sie rum, oder sie ihn, denn: "Das Private ist politisch, das Politische ist privat" lässt Hofmann als Parole flattern und hat so unrecht nicht. Kaum jemand, außer den unsäglichen Parteijugendlichen, nahm sich damals vor politisch zu sein. Man wurde es, weil man sich persönlich betroffen fühlte, ob durch den Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen einzelne Aufseher der Tötungsmaschine oder durch den Vietnamkrieg, dem neuen, von den USA initiierten Völkermord. Mit dem anstrengenden, dauernden Neinsagen zu Adenauer und den alten Nazis erklärt Hofmann den Jubel für Kennedy und die tiefe Trauer, als dieses Idol starb und fast zeitgleich auch die Illusionen über eine USA, mit der die Jungen den Alten widersprechen konnten. Hofmann lässt Platz für Entwicklung.
Es ist eben das Private, das Müller mit seiner Kommune ausstellt: Mit langen Haaren oder kurzen Röcken demonstrieren die Kommunarden ihre nur scheinbare Unabhängigkeit, ihre Aktionen sollen "lustbetont" sein, ihr Studium erleben sie als Zwang, der sie angeblich abhält Fabrikarbeiter zu werden, und ihr Kampf gilt dem Wasch- wie dem Konsumzwang. Es ist unschwer zu ahnen, welches alte Gefecht Müller austrägt: Es ist die vernichtende Kritik der ernsten Linken jener Zeit an der Spassfraktion, an den Puddingattentätern und denen, die sich mit "Make love not war" zur Sonnenseite des Protestes bekannten. Und weil das allein natürlich nur moralinsauer gewesen wäre, kommt "Am Rubikon" als Schelmenroman daher. Deshalb heißt der Western "Kuhjungen-Film" oder der Beischlaf gerät zum "Verfahren, das eigentlich der Vervielfältigung der Menschen dient." André Müller, Jahrgang 1925, war nicht dabei. Und während eine Analyse der damaligen Verhältnisse keineswegs ein Dabeisein erfordert, lebt ein Roman von den Kenntnissen der Zeit, vom Hoffen und Bangen, von den kleinen politischen Gewinnen und den großen persönlichen.
Und weil Hofmann (Jahrgang 1941) dabei war, ist seine erzählende Verarbeitung der Zeit erinnernd und keineswegs unpolitisch: "Im Herbst begann in Bonn die Große Koalition unter einem ehedem aktiven Nazi zu regieren und trieb mir endlich meine letzten Sympathien für die vermeintlich linke SPD aus" lässt er einen seiner Protagonisten sagen und setzt im selben Kapitel dem Unterhaltungschriftsteller Johannes Mario Simmel ein Denkmälchen. Simmels Held in "Es muss nicht immer Kaviar sein" war gegen die Restaurierung und Remilitarisierung der Bundesrepublik, ein trivialer Bestseller mit linken Positionen. Das gab es. Und daneben, den Autor Hofmann offenkundig bis ins Heute bewegend, eine Aufführung des Peter Weiss-Stückes "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats . . . " Aus vielen Quellen speiste sich der Wunsch nach Veränderung, wer wollte sagen, welche den Strom ausmachte?
Bei beiden Autoren spielt die ach so medienmächtige RAF eine Rolle. Hofmann spiegelt sie im Schicksal einer jungen Frau, die, während der allgemeinen, polizeilichen Linkenhatz, versehentlich erschossen wurde. Genau dafür taugte die RAF, als Vorwand sowohl für hohles Pathos wie für die Diffamierung der Linken. Bei Müller kommen die Buchstaben RAF nicht vor, aber ein munteres Bombenbasteln als Polizeiprovokation, das aufs Schönste in seinen Kommunardenstadel passt. Wer sich erinnern mag, oder, weil eben nicht dabei gewesen, eine warmherzige Erinnerung nachlesen möchte, der wird sich den rund 200 Seiten von Jürgen Hofmann zuwenden. Auch, weil er einem versunkenen Westberlin nachspüren kann, jenem Ort der Drückeberger, der nörgelnden Rentner und der Speisevitrinen in Berliner Eckkneipen, in deren Porzellanschüsseln "ältlich wirkende plumpe Gurken wie in Brackwasser gestrandete Wale" schwammen.