Am Sonntag, den 26. Mai 2019, findet in Deutschland die neunte Direktwahl zum Parlament der EU statt. In Deutschland werden dabei allein 96 der insgesamt 751 Mandate zur Wahl gestellt. Es gibt hier also wahrscheinlich bessere Chancen als Aussenseiter ins Parlament einzuziehen als anderswo. Vielleicht auch deswegen ist der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis einer der Mandatsanwärter in Deutschland. Da seine Bewegung DiEM25 nicht als Partei zugelassen ist, und damit selbst nicht zur Wahl steht und weil europaweite politische Parteien ohnehin verboten sind, tritt Varoufakis als Spitzenkandidat der Kleinpartei Demokratie in Bewegung (DiB) an. Eine Gelegenheit also, einmal dem Mann auf die Finger zu schauen, der Dank gezielter massenmedialer Verblödung in Deutschland hauptsächlich wegen seines Motorrades, seines Kleidungsstils und wegen einem Stinkefinger bekannt ist.
Entgegen solcher Äusserlichkeiten lässt sich Varoufakis‘ politische Integrität am besten mit seiner Reaktion auf das Referendum vom 5. Juli 2015 illustrieren. Premierminister Tsipras wollte damals das Volk über die sogenannten Reformen der Gläubiger-Troika aus Europäischer Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank, abstimmen lassen. Wenig überraschend wurden die von der Troika eingeforderten erneuten unerträglichen Sparmaßnahmen mit 61,31 % der gültigen Stimmen von den ohnehin bereits über alle Maßen krisengeprüften Griechen abgelehnt. In dieser Situation war Varoufakis bereit, aufs Ganze zu gehen, um die Souveränität seines Landes zu gewährleisten. Varoufakis sah in der Entscheidung des Volkes eine Aufforderung, Tsipras erneut jene Maßnahmen vorzuschlagen, mit denen er bereits zuvor auf die von der EZB verfügte erpresserische Schließung der griechischen Banken reagieren wollte. Varoufakis hatte vor, durch die Ausgabe einer Alternativwährung, durch die Erklärung eines Schuldenschnitts auf die von der EZB gehaltenen griechische Staatsanleihen, und durch die Übernahme der Kontrolle der griechischen Zentralbank, die Souveränität seines Landes gegenüber den Gläubigern wieder herzustellen, selbst wenn diese Maßnahmen letztlich zum harten Grexit geführt hätten. Tsipras liess dies aber aus Angst vor unkalkulierbaren Folgen nicht zu und führte statt dessen ein politisches Trauerspiel auf, an dessen Ende jene zweite SYRIZA-Regierung entstand, die noch heute unter Tsipras als willfährige Vollstreckerin der Gläubiger agiert. Varoufakis optierte damals hingegen konsequent für den eigenen Rücktritt.
Ein weiteres Zeichen von Varoufakis‘ Integrität ist ein unter Politikern eher rares Bewusstsein, den eigenen Wählern und der interessierten Öffentlichkeit Rechenschaft über die eigenen politischen Entscheidungen schuldig zu sein. In seinem Buch, das auch auf Deutsch mit dem Titel „Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment“ erschien, folgt er dieser Verpflichtung und beschreibt detailliert, was hinter den geschlossenen Türen jener Institutionen stattfand, die an den Verhandlungen des griechischen Schuldenprogramms beteiligt waren. Mit diesen Aufzeichnungen hat sich Varoufakis zum hochrangigen Whistleblower gemacht, der genau jene unerträglichen undemokratischen Prozesse innerhalb der EU schwarz auf weiß fasst, über die kritische Beobachter der EU bisher nur spekulieren konnten. Peinlich genau werden hier die Strategien beschrieben, mit denen jegliche Versuche, konstruktive Gespräche aufzunehmen von inkompetenten Wasserträgern wie Jeroen Dijsselbloem oder nicht gewählten Funktionären wie Mario Draghi systematisch unterbunden wurden, um die Macht des Stärkeren aufrecht zu erhalten und damit vor allem die von Schäuble und Merkel autoritär vertretenen marktradikalen Interessen deutschen Kapitals zu bedienen. Allein am Beispiel der Institution EURO-Gruppe zeigt Varoufakis wie es um den demokratischen Status der EU wirklich bestellt ist. Die EURO-Gruppe ist demnach lediglich eine informelle Versammlung der Finanzminister der Eurozone, deren Präsident in seinen Handlungen an keinerlei geschriebene Regularien gebunden ist und von deren Entscheidungsfindung keinerlei offizielle Aufzeichnungen bestehen. Zur Illegalität der Prozesse gesellt sich die Intransparenz der Institutionen.
Die beiden politischen Situationen, anhand deren Varoufakis‘ Integrität hier illustriert werden sollte, können gleichzeitig als Indikatoren der Motivation für seine folgende poltische Karriere dienen. Die harte Erkenntnis, dass es eine Nation alleine nicht mit der geballten Macht der EU aufnehmen kann und die direkte Erfahrung, dass es sich bei den wichtigsten entscheidungsfindenden Gremien der EU um illegale, intransparente und damit rechtsstaatlich illegitime Institutionen handelte, scheinen die primären Beweggründe für Varoufakis heutige politische Tätigkeit zu sein. Denn als er am 9. Februar 2016 eine neue politische Bewegung in der Berliner Volksbühne ins Leben rief, wurde diese als in erster Linie paneuropäisch und demokratisierend vorgestellt. Folgerichtig heißt es dann auch im Manifest von DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025): „Wir glauben an ein Europa der Vernunft, der Freiheit, der Toleranz und der Fantasie, das ermöglicht wird durch Transparenz in allen Bereichen, wahre Solidarität und echte Demokratie.“ Demokratie, Transparenz und Solidarität als Garantien für Vernunft, Freiheit, Toleranz und Fantasie. Während das Streben nach Transparenz und Demokratie aus Varoufakis politischer Biographie und deren historischer Situation ableitbar sind, muss also auch die Frage nach der Herkunft von Varoufakis‘ Solidaritätsverständnis gestellt werden.
Dies ist eine wichtige Frage, eben weil die Solidarität im EU-Wahlprogramm von DiEM25 richtig großgeschrieben wird: „Kein Land kann frei sein, wenn die Demokratie eines anderen verletzt wird. Kein Land kann in Würde leben, wenn einem anderen die Würde vorenthalten wird. Kein Land kann auf Wohlstand hoffen, wenn ein anderes in permanente Zahlungsunfähigkeit und wirtschaftliche Depression gedrängt wird. Kein Land kann wachsen, ohne dass seine schwächsten Bürger Zugang zu grundlegenden Gütern haben, ohne das Ziel menschlicher Entwicklung, ökologischen Gleichgewichts und der Überwindung der Ära der fossilen Brennstoffe.“ Woher also dieses Insistieren auf der Solidarität?
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass es sich hier um eine vierfache thematische Variation über jene Definition der sozialistischen Gesellschaft aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels handelt, nach der die freie Entwicklung des Einzelnen die Bedingung der freien Entwicklung Aller ist. Und tatsächlich schrieb Varoufakis als Kommentator des Manifestes einmal, dass gerade diese Definition der Solidarität eine immer noch unübertroffene Formel der Hoffnung auf die menschliche Zukunft ist. Fast zu schön, um wahr zu sein: Varoufakis also ein paneuropäischer, demokratischer Sozialist mit noch dazu ökologischem Bewusstsein? Eine Art eierlegende Wollmilchsau linker Politik?
Um hier nicht gänzlich in die politische Romantikfalle abzudriften, muss dem Mann dann doch noch die Gretchenfrage nach der Religion gestellt werden. Es sollte klar sein, dass die hier gemeinte Religion nicht in erster Linie der von der EU im Inneren durch deutsche Wirtschaftsmacht durchgesezte und als alternativlos erklärter Turbo-Kapitalismus ist. Varoufakis und seine Bewegung machen keinen Hehl daraus, dass sie diesen durch institutionelle Veränderungen für reformierbar halten. Das ist zunächst auch kein Verbrechen, sondern eine traditionelle Haltung des demokratischen Sozialismus. Die Frage nach der Religion bezieht sich jedoch vielmehr auf jene militärische Macht, ohne die der Kapitalismus in letzter Instanz nicht durchgesetzt werden kann, rotiert er doch um die innere Notwendigkeit ständiger Expansion, um billige Arbeitskräfte, fehlende Rohstoffe und neue Absatzmärkte zu erschliessen. Genauer bezieht sich die Frage nach der Religion also auf die Haltung zu jener unlängst beschlossenen vertieften gewalttätigen Zusammenarbeit mit der NATO, von der sich die EU eben genau die Erschliessung der dringend benötigten neuen Territorien verspricht. Wie also wird es mit der Religion gehalten?
Es gibt bei DiEM25 durchaus ein Bewusstsein für dieses Gewalt-Problem. Fordert das Wahlprogramm doch ausdrücklich „ein friedliches Europa, das die Spannungen in seinen östlichen Gebieten und im Mittelmeerraum abbaut und als Bollwerk gegen die Sirenen des Militarismus und Expansionismus wirkt.“ Doch während es für alle anderen grossen Themen der Bewegung - also Transparenz, Fortschritt, Flüchtlingskrise, EU-Referendum und Brexit - eigene Kampagnen gibt, bleibt das Thema „Sicherheitspolitk“ aussen vor. Was soll man auch tun in Sachen einer NATO-Reform, die nötig wäre, um dieses gewünschte friedliche Europa auch jenseits der EU-Grenzen zu garantieren, wenn der Oberbefehlshaber der Organisation ein unter ebenfalls nicht gerade demokratisch zu nennenden Vorgängen an die Macht gekommene Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist? Was tun, wenn die Vorraussetzung zur wirklichen Beseitigung der NATO/EU-Gewalttätigkeit letzten Endes von einem amerikanischen Präsidenten abhängt? Oder ist die Beseitigung der Gewalt etwa nicht von Bedeutung, weil man bei DiEM25 gar nicht grundlegend gegen die bestehende Ordnung ist?
Im Zweifel soll hier für den Angeklagten gesprochen werden. Der Abhängigkeit vom Oberkommandierenden der NATO scheint sich Varoufakis sehr wohl bewusst zu sein. Mehr noch, er scheint sogar eine Chance darin zu entdecken. Anderfalls hätte er nicht gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders eine Organisation mit dem Namen „Progressive Internationale“ und dem Ziel gegründet „Menschen auf der ganzen Welt zu mobilisieren um die globale Ordnung und die Institutionen, die sie formen, zu transformieren.“ Die Frage bleibt: Dürfen wir wegen der Zusammenarbeit mit Sanders, der in Sachen Anti-Kapitalismus und Anti-Militarismus zweifellos über eine höhere Integrität verfügt als Yanis Varoufakis, die NATO-Blindheit von DiEM25 als strategisch notwendiges Manöver betrachten? Als eine Finte, ohne die man nicht an die Schaltstellen der Macht kommt, sondern mit grösserer Sicherheit wie J.F.K. oder Olof Palme endet?
Wer also am 26. Mai Yanis Varoufakis wählen will, muss sich diese Fragen selbst beantworten. Wer ihn aber wählt, bekennt sich damit zu dem Glauben, dass die mit Sanders und Varoufakis verbundene mikroskopisch kleine Chance für eine grundsätzliche Transformation der EU und der NATO wirklich besteht und dass damit eine Periode des nachhaltigen innen-und aussenpolitischen Friedens in der EU, in Europa und der Welt eingeläutet werden könnte. Das ist allem Zweifel zum Trotz zumindest ein schöner Gedanke. Es ist ja nicht so, dass wir Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit nicht dringend nötig hätten.