Müller zitiert Mommsen:
Wie kann man Studenten klarmachen, daß die Regierungszeit von Nero wahrscheinlich die glücklichste war, die die römische Bevölkerung je erlebt hat?/1/

Müller schaut voraus:
Es wird sicher in nicht allzu ferner Zukunft wieder Gladiatorenspiele geben./2/


Deutschland leidet gerade an Depressionen und ihr fragt euch bestimmt, wie kann ich der Volkswirtschaft aufhelfen? Darf ich zu Weihnachten noch Bücher verschenken, oder muss es ein neues Auto sein?
Meine Betrachtungen über die vertrackten „Gespräche“ Heiner Müllers sind wenig geeignet, dieses rein ökonomische Problem zu lösen, denn Theater rechnet sich nicht./3/ Gutes Theater ist eine Frage der Geometrie. Als Shakespeare dichtete, war die Erde noch eine Kugel. Was die Zeitgenossen hinter der nächsten Biegung trieben, entzog sich weitgehend seiner Kenntnis. Zu Müllers Zeit verflachte die Welt zur Mattscheibe, wir sehen die Totale. Das Theatrum Mundi als ein grandioses Affentheater.

Das möglicherweise letzte Fernsehinterview, das Heiner Müller gab, als er sicher wusste, er würde nicht mehr lange leben und trocken bemerkte: Ich wiege nur noch so viel wie der Alte Fritz,/4/ ich konnte es in den „Gesprächen“ nicht finden. Auch nicht jenes Interview, in dem er sprach: In der BRD kann man alles inszenieren. Es gibt da zwei Tabus. Mehr nicht!/5/ Die Herausgeber haben auf alle Radio- und TV-Auftritte verzichtet, die nicht gedruckt vorlagen, getreu der alten Müllerweisheit: Zuviel zerreißt den Sack. Alle fremdsprachigen Interviews blieben unberücksichtigt. Übersetzungen machen Arbeit und Arbeit kostet Geld. Die Stasi-Protokolle von Gesprächen Müllers, ihr werdet sie vergeblich suchen. Hat die Birthler sie nicht rausgerückt? Ebenso wie alle vertrauten Gespräche wurden sie von den Herausgebern in der editorischen Notiz nicht einmal erwähnt. Man gönnt uns nur den offiziellen Müller, der private fehlt. Zu guter Letzt haben die Herausgeber bewusst Gespräche ausgeschieden, in denen ihnen am Maß einer angenommenen Einheit von Literarizität und Dialogizität/6/ (sic!) etwas zu fehlen schien. Vielleicht hat all das mit dem Editionsprinzip des Suhrkampverlages zu tun, der uns Müller, wie seinerzeit Brecht, häppchenweise in immer umfangreicheren Ausgaben verabfolgen will.

Was die Auswahl überstand – 2800 Seiten Gebabel mit einer gehörigen Portion Müllerweisheit – ist ein disparates Konvolut aus fragmentarischer Lebensbeschreibung, paradoxen Regieanweisungen und politischem Statement. In drei dicken Bänden kann man zwischen den Zeilen die medialen Demontagen des Subjekts Müller verfolgen, gespeist aus niedrigen ideologischen Beweggründen. Die Bonzen etikettieren ihn als Parteifeind. Die Kritikaster beider deutschen Staaten entdecken den Skandalbruder. Nach der Wende denunzieren ihn die Neider als Stasizuträger. Zuletzt beschimpfen ihn irgendwelche Bleihirne als intellektuellen Faschisten. Nur für einen Volksschädling war er noch zu klein. Immerhin mieden ihn die Spielkameraden, denn der Vater saß im KZ. Es ist bestimmt nicht leicht, ein bedeutender deutscher Dramatiker zu werden, aber weitaus schwerer noch, dieses Schicksal dann mit Fassung zu ertragen.

In den Gesprächen Heiner Müllers taucht immer wieder eine Abkürzung auf. Es ist das Kürzel „DDR“ und zumindest die Älteren unter uns wissen noch, was es bedeutete: Absurdistan. Anfangs kümmerte sich das Politbüro tatsächlich um Literatur, statt um Klopapier. Und so herrschte öfters Mangel an solchen Rollen, während Schauspieler in der Rolle des Arbeiters diesen lösbaren Widerspruch auf dem Theater diskutierten. Als das Politbüro endlich erkannte, dass die ganze verordnete DDR-Literatur nur auf Klopapier hinausläuft, war es schon zu spät. In der Bundesrepublik hingegen, wohl um der Überproduktion Herr zu werden, erhöhte man allmählich die Anzahl der Toilettenpapierlagen und inszenierte die Defäkationshandlung selbst – auf der Bühne.
Müller ironisiert den Kritikervorwurf der „Blut und Sperma“-Inszenierung: das war ja die Formel für die Schwarze Messe. Das war der Beleg dafür, also für die Inquisition, daß eine Schwarze Messe stattgefunden hat: das Vorhandensein von Blut und Sperma./7/

Heiners Blick auf die DDR wirkt geringfügig verklärt, denn er gehörte, wie er selbst sagt, ab 1970 zu den Privilegierten. Von seinen Westradatten konnte er sich wohl die eine oder andere Kiste Zigarren leisten, die für den DDR-Normalverbraucher ein frommer Wunsch blieb. Man wird den befremdlichen Eindruck nicht los, er glaubte gegen Ende seines Lebens wirklich, von dem bessern in das schlechtere Deutschland geraten zu sein. Die Berliner Mauer war eine Zeitmauer./8/ Seine Meinung von den Möglichkeiten der Demokratie ist gering: In den Demokratien sichert man sich das Vertrauen der Bevölkerung durch Vernebelung./9/

Die Aufführung eines Heiner-Müller-Stücks geriet in der DDR immer zur Haupt- und Staatsaktion. Die Parteisekretäre telefonierten sich die Ohren heiß und die IMs schrieben sich die Finger wund. Was hatte es nur zu bedeuten, dass im „Macbeth“ die Toten in einer Telefonzelle abgefahren wurden?/10/
In den langatmigen Fragen der Interviewer wird häufig unterstellt, Müller sei der legitime Erbe Brechts. Auch der Befragte kokettiert ein wenig mit der Möglichkeit, wenn er an der Zigarre nuckelt. Und er hat Recht – noch mehr Brecht war bereits damals unmöglich. Ich bin der beste lebende Dramatiker, gar keine Frage. Das weiß jedes Kind inzwischen./11/

Die „Gespräche 1“ enthalten intensive Selbstinterpretation, untermischt mit einem Übermaß an Brechtbezügen, vor allem aus Brechts doktrinären Lehrstücken und vagen Fragmenten. Müllers Anleihen an die steife marxistische Scholastik (die erste Qualität des Proletariats ist seine Quantität) werden durch die Gesprächspartner zunehmend mit modischem Neusprech überlagert (das Prozessuale ist im Kontext subsumiert).
Schon im Beginn des ersten Bandes, der einen Großteil der DDR-Zeit umfasst, bewährt sich der Dichter. Dichten ist Lügen auf hohem Niveau. Die Kulturbonzen laden ihn vor und er verbiegt sich elegant, ohne zu brechen, obwohl ihm vielleicht danach zumute war. Manchmal gibt er eine Eiertanzeinlage: Ich glaube, das ist ein sehr gutes Stück. Es ist sicher ein sehr plattes Stück. Das ist vielleicht die Antwort darauf. So die geforderte Einschätzung des „Marat/Sade“ seines Kollegen Peter Weiß beim Wisconsin Workshop, Madison/USA 1975./12/

Die „Gespräche 2“ vermitteln überdeutlich, wie sich im Weltgebäude Risse auftun, die mit den Floskeln der Dialektik nicht zu kitten sind. Am Anfang steht der intrikate Dialog mit Erich Fried, eine Sternstunde kommunistischer Gesprächskultur. Als die beiden abgebrühten Literaturprofis über den Bücherklau ins Schwärmen geraten, wird es göttlich. Müller berichtet, wie er nach dem Krieg Bibliotheken in Mecklenburg entnazifiziert. Müller: Ich konnte stehlen, was mir gefiel… Fried: Das ist sehr schön! Müller lacht. Fried: Das hat mir auch eine SED-Funktionärin erzählt, wie wunderbar man damals Bücher abstauben konnte./13/ Aber dann kommen die blutigen Geheimnisse des Jahrhunderts hoch. Die Bösen werden geschlachtet/ die Welt wird gut./14/
Müllers Kulturpessimismus nimmt überhand. Man muss wohl damit leben, daß der geistige Mensch in unserem Zeitalter ausstirbt. In den McDonald’s-Läden sitzt doch schon eine ganz neue Menschenrasse, die begeistert Scheiße schlürft./15/

In den „Gesprächen 3“ potenziert sich nochmals die Zerrissenheit, das Ende naht. Müller kann sich jetzt die Interviewpartner wenigstens teilweise aussuchen. Wenn sie ihn nicht zu bierernst mit den Stasiakten traktieren, macht er gern sein Späßchen. Und da hab ich auch einen sehr glücklichen Namen, wer weiß, was alles an Müller-Akten da ist./16/ Andere erfreut er mit anekdotischen Koinzidenzen. Lenin verbannt Gorki nach Capri, sonst müsse er ihn erschießen lassen. Hitler untersagt Freisler den Hochverratsprozess gegen Jünger.
Die alten Götter sind tot. Vom armen B.B. bleiben nur die „Fatzer“-Fragmente, deren Substanz etwas problematisch ist. Meistzitierter Autor wird Ernst Jünger. Heiner hatte schon in frühster Jugend die „Marmorklippen“ gelesen, die Vater Müller quasi als Widerstandsliteratur besaß. „Oberförster“ war eine Bezeichnung für Hitler, die im Erzgebirge üblich war./17/ Müllers Mutter stammte von dort. So vieles Gesagte bleibt aktuell: Folter ist eine der ältesten Dienstleistungen in der Geschichte der Menschheit./18/

In dem Jahr seiner Vollendung befragt ihn Frank M. Raddatz in Pacific Palisades zur deutschen Bühnenlandschaft. Die linken Theatraliker hatten sich gerade wieder einmal gegenseitig als Rechte diffamiert. Müller ist leidend, wortkarg, schweigt, schläft endlich ein. Erwacht liest er dem stichelnden Interviewer Ezra Pounds Canto CXV vor und übersetzt sarkastisch aus dem Stehgreif, wie nur ein großer Dichter es kann. Eine verdorrte Hülse, 70 verweht/ aber das Licht singt ewig/ Ein bleicher Blitz über den Marschen/ wo das versalzene Heu flüstert zum Wechsel der Gezeiten/ Zeit, Raum/ weder Leben noch Tod ist die Antwort./ Und der Mensch, der das Gute sucht/ und tut das Böse./ IN MEINER HEIMAT/ wo die Toten umgingen/ und die Lebenden waren aus Pappmaché gemacht./19/
Finis coronat opus.

Richtig, ich habe eure Eingangsfrage noch gar nicht beantwortet: Zum Fest Auto oder Buch?
Wartet den Konsumgutschein der Bundesregierung ab. Vielleicht ist es ja ein Büchergutschein.


Anmerkungen:
/1/ Gespräche 3, S. 287; /2/ Gespräche 3, S. 804; /3/Gespräche 3, S. 794; /4/ aus dem Gedächtnis zitiert; /5/ gesendet in 3sat am 10. 1. 2004; /6/ Gespräche 1, S. 811; /7/ Gespräche 1, S. 546; /8/ Gespräche 3, S. 39; /9/ Gespräche 3, S. 15; /10/ vgl. Gespräche 1, S. 448; /11/ Gespräche 1, S. 591; /12/ Gespräche 1, S. 95; /13/ Gespräche 2, S. 127; /14/ Gespräche 2, S. 145, aus einem Gedicht Frieds, das sich mit Brechts „Maßnahme“ auseinandersetzt; /15/ Gespräche 2, S. 407; /16/ Gespräche 3, S. 696; /17/ Gespräche 3, S. 304; /18/ Gespräche 3, S. 269; /19/ Gespräche 3, S. 653 f. Originaltext: A blown husk that is finished/ but the light sings eternal/ A pale flare over the marshes/ there the salt hay whispers to tide’s change/ Time, space/ Neither life nor death ist the answer./ And of man, seeking good,/ doing evil./ In meiner Heimat/ where the dead walked/ and the living were made of cardboard.