"Dem Ende des Ostens folgte das Ende des Westens", schreibt Albrecht von Lucke und zieht eine doppelte Bilanz: Jene nach dem Ende der Zweiteilung der Welt mit Ihrer Abschreckungslogik, dem atomaren Patt, und jene nach dem Ende der Bonner Republik und dem Beginn der berlinischen. Wenn er die DDR weitgehend ausblendet, dann nicht aus der unangenehmen Pose des Siegers, sondern der normativen Kraft des Faktischen folgend: Sie ist, so oder so, aufgegangen in der Berliner Republik, jenem Gebilde, das seinen 20. Geburtstag in der Krise feiern muss und dessen vorgebliche Gründung zugleich eine sechzigjährige Dauer verzeichnet. Damals in Bonn, mit der Spaltung Deutschlands, begann die Laufzeit. Könnte von Lucke wählen, zöge er die Bonner Republik der Berliner vor, denn die demokratische Substanz der letzteren sieht er gefährdet.

Den Hauptvorteil der alten Republik begreift der Autor in jenem intellektuellen Zweifel, der Bonn immer begleitet hatte: Das Provisorium, in dem die Westdeutschen es sich durchaus gemütlich gemacht hatten, wurde von Innen, der zumeist linken Intelligenz, und von Aussen, den Nachbarstaaten, die gerade noch ein sehr unangenehmes Deutschland hatten erleben dürfen, argwöhnisch beobachtet: Die Bundesrepublik war der Nachfolgestaat. Auch wenn die DDR unter Diktaturverdacht stand, nahm doch niemand ernsthaft an, sie würde demnächst das braune Monster wiedergebären. Den fruchtbaren Schoß sah man im Westen. Und genau das trug der Bonner Republik die demokratische Kontrolle ein, die, vom Auschwitz-Prozess über eine Außenpolitik der Koexistenz bis zur Friedensbewegung, Bonn relativ berechenbar machte.

All das sieht von Lucke nun gefährdet: Der kritische intellektuelle Diskurs wurde "mit dem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer der Fußball-WM quasi vom Kopf auf die Füße gestellt" schreibt er und "aus der Bundesrepublik wurde Deutschland." So wie der Autor für die Wiedervereinigung eine neue, gesamtdeutsche Verfassung einklagt, so erinnert er kritisch an den Kossovo-Krieg, den ersten großen Krieg nach 1989 ohne UN-Mandat, der am Anfang der Berliner Republik stand. Ihm folgte die öffentliche Gewöhnung an die Militarisierung der Außenpolitik, ob in Afghanistan oder am Horn von Afrika. Zustimmend zitiert von Lucke deshalb Heribert Prantl: "Krieg ist und bleibt Hochverrat an der Zivilisation". Auch die zunehmende Entpolitisierung, die ihren Gipfel in der Schreckensstarre angesichts der Krise findet, ist dem Autor Indiz für die Labilität der Republik.

Doch die Hauptsorge von Luckes findet sich in der von ihm konstatierten "Rückkehr des Freund-Feind-Denkens im Zeichen des Ausnahmezustandes". Der Zeitpunkt der Rückkehr des Feindes als gesellschaftlicher Kampfbegriff ist der 11. September 2001. Mit dem "Kampf gegen den Terror" beginnt das Ende der Neutralität, die Radikalisierung von Innen- und Außenpolitik. Für den Autor markiert dieser Wendepunkt auch die Revitalisierung des Pathetischen: Es gibt wieder Orden und Abzeichen für Tapferkeit vor dem Feind. Galt Auschwitz bisher als Metapher für deutsche Schuld, so wurde sie von einem ehrgeizigen grünen Außenminister zum Stichwort für deutsche Kriegsbereitschaft. Der öffentlich verachtete "Gutmensch" musste dem "Ruckmenschen" Herzogscher Prägung weichen. Es ist manchmal köstlich von Lucke beim Sezieren zu beobachten: "Wenn auch der Kompass fehlt, Hauptsache, es ruckt."

"Wer den Tod liebt, kann ihn haben", wird der markige Innenminister Schily in Reaktion auf al-Qaida zitiert und mit dem begründet sich auch die neue Grenzpolitik, die Verschlechterung des Asylrechts und die Verfeindung mit "dem Ausländer", der natürlich, so der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher "deutschfeindlich" ist. Flugs wird die mögliche Bedrohung durch ausländische Terroristen mit einer erfundenen "Mischung aus Jugendkriminalität und muslimischem Fundamentalismus" ins Innere transportiert und so dem Freund-Feind-Schema ein innenpolitisch verwertbarer Drall gegeben, der dem Sicherheitsdenken Vorrang vor demokratischen Freiheiten gibt.

Wenn von Lucke sich den sozialen und ökonomischen Problemen der Republik zuwendet, zieht er seine Lehren aus Weimar und Bonn: "Ohne soziale Integration ist alles - fast - nichts." Offenkundig fürchtet er die Rückkehr der "alten sozialen Frage". Und so sehr man dem gelernten Politikwissenschaftler bei der Zustandsbeschreibung (er beklagt heftig die Auswirkungen von Hartz IV, die fatale Bildungspolitik und die "Vererbung von Armut") folgen mag, so wenig dicht scheint seine Analyse zu den sozial-ökonomischen Zusammenhängen. Denn natürlich kannte die alte Republik einen Feind: Die DDR und den restlichen Sozialismus. Und sie war, erinnert man an die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik, nach außen aggressiv und nach innen, denkt man an die Zuchthausstrafen für Kommunisten, repressiv.

Gewiss ist in der bipolaren Welt, in der von Lucke die alte Republik ruhig aufgehoben sah, der ganz große Bang ausgeblieben. Doch das hat Kriege und Bürgerkriege nie letztlich verhindert, immerhin hat das Lagerdenken einen langen, europäischen Frieden beschert. Und auch die relative soziale Ausgewogenheit der Bundesrepublik war nur möglich, weil einerseits, angesichts des Systemkonfliktes, auf die soziale Peitsche begrenzt verzichtet wurde, und andererseits die Mehrheit der Arbeiterbewegung, in SPD und Gewerkschaft eingebunden, in der DDR den eigentlichen Gegner sah, sich also in einer Art Arbeitsgemeinschaftspolitik mit dem Kapital befand. Dass diese, aus Kaiserzeit und Weimarer Republik resultierenden oppositionellen Strukturen sich dadurch letztlich selbst auflösten, ist eines der Übel, die wir in der Krise beklagen dürfen: Die da Unten haben kein Feindbild mehr. Und hätten sie eins, mangelte es ihnen an Organisation. Diese leise Schwäche in von Luckes Analyse mindert den Wert des Buches "Die gefährdete Republik" nur wenig. Es ist ein wesentlicher Denkbeitrag zur Zukunft einer Republik, deren akute Krankheit von Lucke kundig und eloquent beschreibt.

GALERIE-GESPRÄCHE
Am 30. März 2009 wird Albrecht von Lucke sein neues Buch "Die gefährdete Republik - Von Bonn nach Berlin" vorstellen. Seine Arbeit analysiert, zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik, mit Sorge die Erosion republikanischer Prinzipien. Von Lucke ist Redakteur der Zeitschrift "Blätter für deutsche und Internationale Politik" und Buchautor.

Das Gespräch am 30. März beginnt um 19.00 Uhr in der Inselgalerie, Torstraße 207, 10115 Berlin.

Sie sind herzlich eingeladen.