Wir alle haben damals das Foto gesehen, wir alle können uns daran erinnern: "Diese Frau in einem festlich schwarzen Umhang, " schreibt Uwe Timm, "das schwarze Gewand lässt die Arme frei, so kniet sie neben ihm, und der Blick geht nach rechts oben, die Assoziation ist nahliegend: eine religiöse Ikone." Es ist das Bild des ermordeten Benno Ohnesorg, nahe der Westberliner Oper kniet eine Frau bei ihm, bettet den Kopf des Sterbenden auf ihre Handtasche und hält ihn doch, in meiner Erinnerung, in den Armen.

Uwe Timm hat Benno Ohnesorg gekannt, für eine Zeit waren sie Freunde, der gelernte Kürschner und der gelernte Dekorateur besuchten gemeinsam das Braunschweig-Kolleg, um das Abitur nachzuholen. Das nannte man den zweiten Bildungsweg, auf diesem Weg sammelten sich die jungen Frauen und Männer, die, zumeist aus sozialen Gründen, vom ersten Weg ausgeschlossen waren, deren Bildungshunger und Lerneifer die Herkunft und das Geld der anderen ausgleichen mussten.

Dem Freund spürt Timm nach, seiner eigenen Jungend und dem Vermögen sich zu erinnern. "Der Freund und der Fremde" ist kein Blick zurück im Zorn, auch wenn die Besinnung an den Freispruch des beamteten Totschlägers, wegen "putativer Notwehr", noch heute besinnungslos wütend machen kann. Stärker sind die Linien, die von damals nach heute weisen: Ohnesorg wurde am Rande einer Demonstration gegen den Schah erschossen, den amerikanischen Marionettenkönig, dessen Erbe wir immer noch tragen dürfen.

Mit den bildungshungrigen Ohnesorg und Timm werden, in fast karger Sprache, die 60er noch einmal lebendig. Die verdruckste Zeit, die Verdrängung der kleinen Läden und Handwerke zugunsten der Ketten und Konzerne, das öffentliche Beschweigen der deutschen Vergangenheit, der Wunsch nach Veränderung, nach Offenheit, nicht wissend wie das zu machen wäre. Aus dem belasteten, engen Deutschen fliehen, das hieß Amerikaner werden, Kaugummi, Jazz und Jeans auftragen, anders zu sein als die Väter.

Timm, der früh nach Frankreich fährt wie in eine Emigration, sucht wie der Freund im Existenzialismus, in Camus und Sartre, die eigene Kontur: "Die Verweigerung von jeglicher Bindung im Privaten, im Kollektiv." Nur langsam wächst das Bild des Freundes, der, ohne Vorsatz zum Märtyrer geworden, kein Leben mit dem Freund hat führen können, versunken war, bis ihn Timm nach Jahren in ein heutiges Licht stellt. Der Ohnesorg den Timm kannte, war nicht an Politik interessiert. Nur zwei Gespräche zur Politik sind ihm geblieben, seltsam ungenau. War Ohnesorg dabei, als Timm gegen die Durchsuchung des Spiegels protestierte? Der "Spiegel", in dieser Zeit Inkarnation der Demokratie, des Journalismus, war bedroht, fast überall in der Westrepublik begriffen mehrheitlich jüngere Leute die Notwendigkeit zum Protest.

Besuche des Autors beim Sohn des Ermordeten, der nichts wegwerfen kann, inmitten von Dingen lebt die Erinnerung tragen und den Vater nicht erinnern kann, weil er ihn nicht kennen gelernt hat, bei ehemaligen Mitbewohnern, das Gespräch mit der Frau auf dem Foto, sorgsam zusammen getragene Eindrücke, zusammengefügt zu einem Stück Geschichte der Bundesrepublik. An der Tür des Totschlägers, des Beamten der Politischen Polizei Karl-Heinz Kurras, hält Timm inne, er klingelt nicht: "Nur das wußte ich, aggressiv würde ich nicht werden, nicht mehr."

Kurras war am Ende des Kriegs und des Faschismus 16 Jahre alt. Sein Polizeipräsident, Erich Duensing, war ehemaliger Major und Ritterkreuzträger. Der Staatsapparat war voll davon, Beamte, Juristen oder Polizisten, die den Nazis treu gedient hatte. Das war es, was wir in den 60ern entdeckten, das ist es was Timm als eine Spur der deutschen Nachkriegsgeschichte in "Der Freund und der Fremde" nachzeichnet.

Ein anderes Foto setzt Uwe Timm in unmittelbare Beziehung zum Foto des toten Freundes: "Die aus einem brennenden vietnameschen Dorf fliehenden Kinder, vorn das Gesicht des durch Napalm verbrannten Mädchens, ein stummer Schrei." Und der Satz dazu: "Du musst dich ändern."

Ein anderer Satz, erst falsch von mir gelesen: "Der Zweifel ist göttlich." Zwei Zeilen zurück, erneut gelesen: "Der Zweifel ist köstlich.", schwebt über einem Buch, das aus dem Erinnern die Gegenwart berührt, wie manchmal Träume die Wirklichkeit.

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