Eine Ordnung, die wir eine höhere nennen, weil wir ihre Absicht nicht verstehen, hat manche Völker zu Glückskindern gemacht, sie als die allein echten Göttererben in ein Paradies hineingeboren werden lassen. Andere aber zu Proletariern gestempelt…
Nadja Strasser, Die Russin/1/
"Der Russe" ist Gegenstand feindseliger deutscher Propaganda, seitdem Kaiser Wilhelm II. 1890 den Rückversicherungsvertrag mit dem Zarenreich kündigte. Diese Propaganda gipfelte im bolschewistischen Untermenschen und schmorte seitdem im Westen Deutschlands mal auf kleinerer, mal größerer Flamme, je nachdem, wie heiß der Kalte Krieg war. Dagegen wurde im Osten der "Sowjetmensch" in den Himmel erhoben, auch er nur eine Propagandachimäre. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bediente man im vereinten Deutschland nur noch dezent die alten Klischees. Die Russenmafia wurde zum Synonym für die Unterwelt. Viel Lob erhielt dagegen der trinkfreudige Demokrat Jelzin, als er die herrenlosen Bodenschätze Sibiriens der Exploitation zuführte und dabei Russland mit einer neuen Klasse beglückte, den Oligarchen. Zurzeit gefallen sich die Medien in antirussischer Hetze, die nach dem Einmarsch der Russen in Südossetien aufflammte. Wir begegnen den üblichen propagandistischen Tricks: Verdrehung von Tatsachen (haben die Russen Südossetien verwüstet?), gemeinen Unterstellungen (ist Russland ein sicherer Gaslieferant? Es ist es seit 40 Jahren.) und simplen Lügen (russische Streubomben auf Georgien. Streubomben wurden tatsächlich von der georgischen Armee eingesetzt. Wer hat sie geliefert?).
Jetzt, wo man den Nachrichten aus dem Osten noch etwas weniger trauen darf als gewöhnlich, sollten wir uns, gleichsam um uns mit Toleranz zu wappnen, einen Blick in die russische Seele gönnen. Und warum in die Ferne schweifen, das Gute ist so nah! Gemeint sind die russischsprachigen Immigranten aus der früheren Sowjetunion und dem heutigen Russland. Merle Hilbk, Osteuropajournalistin mit russlanddeutschen Vorfahren und russischen Sprachkenntnissen, hat dankenswerterweise diese Zuwanderung einer ganz subjektiven Analyse unterzogen, indem sie durch die Republik reiste und ausgewählte Einzelschicksale erkundete, die sie zu den spärlichen statistischen Daten in Beziehung setzte.
Der russische Zustrom speist sich aus drei Quellen, den Nachkommen deutscher Einwanderer ins Zarenreich zur Zeit Katharinas der Großen, den Nachkommen der Juden, die zeitgleich durch die Teilungen Polens an Russland kamen, sowie den russisch sprechenden Völkern des Reichs, Russen, Tataren usw. Es handelt sich immerhin um dreieinhalb Millionen, die in der Öffentlichkeit meist als homogene Gruppe wahrgenommen werden, aber von den Behörden fein säuberlich in Kategorien unterteilt werden – „Russlanddeutsche“, „Russische Juden“, „Russische Arbeitsmigranten“ – um zu betonen, dass sich der deutsche Staat einigen gegenüber stärker verpflichtet fühlt als anderen./2/ Was Merle Hilbk damit sagen möchte, ist folgendes: diese drei Gruppen sind ziemlich durchmischt, werden aber nach Abstammungskriterien differenziert und finanziell unterschiedlich versorgt. Die Sowjetunion kannte dieselbe Einteilung in Nationalitäten, die einen Eintrag im Pass zur Folge hatte und auf den Volkskommissar für Nationalitätenpolitik Jossif Wissarionowitsch Stalin zurückgehen dürfte. Im Allgemeinen wurden die Völkerschaften unter diesem Despoten gleich schlecht behandelt. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion aber begann die Deportation der Wolgadeutschen in unwirtliche Gebiete, die mit einem schrecklichen Massensterben einherging. Nach dem Krieg sollten andere Völkerschaften wegen vorgeblicher Kollaboration mit Deutschland ein ähnliches Schicksal erleiden.
Die Russlanddeutschen blieben auch nach der Entstalinisierung faktisch Vertriebene, denn die Wolgarepublik wurde nicht wieder hergestellt. Weitere Gründe für ihre Emigration lagen in der Ungleichbehandlung gegenüber anderen Völkern der Sowjetunion, der fehlenden Freizügigkeit und dem allgemeinen Mangel. Die letzten drei Gründe führten die russischen Juden auch an, zusätzlich seit 1992 den wieder erstarkenden Antisemitismus. Für emigrationswillige Russen reduzierten sich die Wünsche auf Freiheit und Wohlstand. Während Deutschland das natürliche Ziel der ausreisewilligen Russlanddeutschen war, wählten die russischen Juden oftmals den Umweg über Israel. Auch unternehmungslustige Russen zieht es wieder vermehrt in Richtung Westen. Der reiche Russe kurt in Baden-Baden. All das lässt sich bei Merle Hilbk in oder zwischen den Zeilen finden.
Die Assimilationsbedürftigkeit ist in den drei Gruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Merle Hilbk zitiert Richard Sennett: People want to live with people like them./3/ Sie vermittelt den Eindruck, die Russlanddeutschen würden sich eher ökonomisch integrieren, die Kontingent-Juden mehr kulturell eingliedern und die genuinen Russen seien der Segregation ausgesetzt. Als Beispiel führt sie das Russen-Ghetto in Berlin-Marzahn an, das dort Mitte der neunziger Jahre entstand, weil erschwinglicher Wohnraum reichlich vorhanden war. Tatsächlich ist die Segregation bei der bildungsfernen Unterschicht am stärksten ausgeprägt, zurückzuführen auf das unzureichende Angebot einfacher Arbeit, die dem Rationalisierungswahn zum Opfer gefallen ist.
Glücklicherweise meidet Merle Hilbk Neuworte wie Hartz IV und Prekariat und anderes Soziologenkauderwelsch. Stattdessen lobt sie die altertümliche Solidarität der russlanddeutschen Familien und das nahrhafte russische Essen. Sie gibt Einblicke in die russisch-deutsche (Sub)Kultur von Kaminer bis Delfinow, berichtet vom russischen Bardengeheul in Berlin, der Bardenmetropole und von der Datscha-Party in Hamburg. Ganz unglaublich scheint mir als gebranntem Blumenkind die Nachricht, dass Russen-Hip-Hop und Breakdance die Stadt Buchen im Neckar-Odenwald-Landkreis „gerettet“ haben sollen. Dagegen wirken die Schilderungen der Russencliquen in offenen und geschlossenen Jugendknästen real.
Merle Hilbks informatives Buch hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Einerseits betonen deutsche Politiker immer wieder die Notwendigkeit der Zuwanderung arbeitswilliger Immigranten mit guter Ausbildung, die dem christlich-abendländischen Kulturkreis angehören und assimilationswillig sind, andererseits haben dieselben deutschen Politiker mit restriktiven Gesetzen die russische Zuwanderung zuletzt enorm gedrosselt. Es bleibt uns nichts, als intensiv Talkshows zu konsumieren, in denen uns deutsche Politiker irgendwann diesen Widerspruch erklären werden.
Anmerkungen
/1/ Nadja Strasser, Die Russin, S. Fischer Verlag, Berlin, 1917, S. 8
/2/ Hilbk, Die Chaussee der Enthusiasten, Aufbau, Berlin, 2008, S. 10
/3/ zit. Hilbk, ebenda, S. 94