Es ist die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, das dramatische schmale Stück Deutschland, das Landolf Scherzer entlang wandert. Fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden des anderen deutschen Staates und seiner Grenzanlagen geht er mehr als 400 Kilometer, mal ein Dorf West, dann ein Dorf Ost, immer in das erste Haus links und fragt nach der Befindlichkeit der Menschen die darin wohnen und schreibt sie in seinem Buch "Der Grenzgänger" auf.

Und weil Landolf Scherzer der Mensch ist, der mit den normalen Leuten reden kann, weil er niemandem seine Meinung aufzwingen will und wunderbar zuhört und redlich ist in der Wiedergabe, entsteht ein wunderbares Panorama der Befindlichkeit der normalen Leute, ein deutsches Lehrstück aus der alten Grenze geschnitten. Der gelernte DDR-Bürger Scherzer, der eigensinnige Beschreiber von Wirklichkeit mit seinen kleinen Auflagen im Real-Sozialismus, große wollten sie von ihm lieber nicht drucken, schreibt die Geschichte nicht klein: Er erinnert an Menschen die in Minenfeldern ihr Leben ließen, gruselt sich in einer verlassenen Grenzkaserne und berichtet über jene, die sich an die Grenze als das Monster erinnern das sie auch war. Aber die Leute sind mit dem Jetzt beschäftigt, das Damals haben sie entweder schon damals als Normalität begriffen oder es ist derart vom Heute überwuchert, dass es, im Alltag versunken, kaum noch die Oberfläche des Bewusstseins berührt.

Scherzer trifft den freundlichen Holländer, der in Erinnerung an die Wende in der DDR fragt: "Warum waren Sie nicht schon unter Hitler solch ein mutiges Volk?" Er sucht und findet Mitglieder jener zwei Blaskapellen, die aus Thüringen und Bayern, über die Köpfe der Grenzer hinweg, im November 1989, die Grenze "aufgeblasen" haben. Er redet mit denen, die die Öffnung der Grenze immer noch als Chance und Befreiung begreifen und denen, die mit der Grenze ihre Arbeit, ihr gewohntes Leben und ihren Mut verloren haben, und die säuberlich auf beiden Seiten zu finden sind. Kein noch so festes Vorurteil, es seien nur die Ostler - die sich die alten Verhältnisse zurück wünschen würden und es seien nur die Westler, die von der Einverleibung der DDR profitiert hätten und umgekehrt, hält dem unerbittlichen Ohr des Autors stand. Er entdeckt auf beiden Seiten richtige Menschen, und auf beiden Seiten findet er die Unechten, die Ausweichenden, die Verlorenen.

Immer auf der Suche nach der Wahrheit kommen dem Wanderer viele Wahrheiten unter: Dass die großen Nachfolgebetriebe der LPGen überlebt haben, während die kleinen Bauern im Westen ihre Äcker nur noch nach Feierabend bestellen. Dass es in der DDR den Häusern schlecht, aber den Menschen sozial ganz gut ging, während heute die Häuser rausgeputzt und immer mehr Menschen sozial weggeputzt werden. Er trifft auf Westler, die über ihre Zwangsenteignung, ein Wort das man eigentlich mit der DDR zusammenbringt, durch Hartz IV fluchen und auf den Wirt im Osten, der früher "Gäste ohne Ende und keine Waren und heute Waren ohne Ende aber keine Gäste" hat. Er besucht Grenzmuseen und türkische Zentren, findet Kitsch und Kunst und sogar ein Adenauer-Zitat, der 1952 vor dem Bundestag eine Ehrenerklärung für die deutschen Soldaten abgab und, auf Nachfrage, auch die Waffen-SS darin einschloss.

Wer ein Sittengemälde des vereinigten Deutschlands sucht, der findet es im "Grenzgänger". Wer lange genug in den vielen unterschiedlichen Wahrheiten liest, dem kommen zwei besondere aus dem Buch entgegen. Die eine kommt aus dem Mund der arbeitslosen Evelyn, die uns mitteilt, dass es schon immer Arm und Reich gab und das das irgendwie mit dem Eigentum zu tun hat und man lieber alles so lassen soll wie es ist. Dann weiss man, warum Fatalismus von fatal kommt. Und die andere arbeitet Scherzer auf seiner Grenzwanderung durch viele Fragen und viele Antworten heraus: Im Westen konnte jeder seinen jeweiligen Kanzler öffentlich als blöde bezeichnen, seinen Chef, seinen Abteilungsleiter allerdings, über den sagte und sagt er genauso wenig wie über sein Gehalt. Im Osten waren Honnecker-Beleidigungen nicht einmal heimlich sonderlich ratsam, über Arbeit und Arbeitsbedingungen allerdings redeten die Leute ziemlich ungeschminkt. Allein für das Herausfinden dieser geteilten Freiheit hat sich der lange Weg und das Lesen des kurzweilige Buches gelohnt.