Ein Ziegelstein von Buch liegt auf meinem Schreibtisch; eintausendvierundzwanzig eng bedruckte Seiten; dazu noch mehrere nicht nummerierte Fotostrecken. Der renommierte britische, in New York lehrende Historiker Tony Judt erzählt darin die jüngste Geschichte des alten Kontinents - von 1945 bis zur Gegenwart. Er ist, wie der häufig im Buch zitierte Raymond Aron, ein Liberaler in unliberaler Zeit.

»Selten in ihren parlamentarischen Verhandlungen ist es den Engländern möglich«, heißt es einmal im Buch, »ein Prinzip auszusprechen, sie diskutieren nur den Nutzen oder Schaden der Dinge, bringen Fakta, die einen pro, die anderen kontra, zum Vorschein«, so Heinrich Heine 1828, so Tony Judt heute. Unzählige Details, zahlreiche Fakten, viele Geschichten erfährt der Leser auf seiner langen Reise durch die vergangenen Jahrzehnte.

Freilich, die Fakten sind so unermesslich, dass es einer ordnenden Kraft bedarf. Für Tony Judt ist es die Geschichte der Europäisierung: die Zeit, wo europäische Völker sich um die Weltherrschaft einander bekriegten, ging zu Ende; die Entkolonisation verwies die Kolonialmächte auf ihre Heimat; der eiserne Vorhang, der jahrzehntelang den Kontinent trennte, zerfiel; die Verbindung durch die Europäische Union schuf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum; die Diskreditierung von Fortschritt und Sozialismus ließ nur noch das »Modell Europa« als Hoffnungsschimmer am leeren Himmel der Ideen übrig.

Es ist müßig, in wenigen Zeilen die Spannweite des Buches zu ermessen vom Aufbau Europas nach 1945 durch alte Männer wie Adenauer, Churchill und De Gaulle bis zu den Jugendrevolten der 68er, von den Medienrevolutionen bis zum Aufkommen des Teenagers (»Um 1957 begannen junge Leute zum erstenmal in der europäischen Geschichte, selbst Geld auszugeben und einzukaufen.«), von der Verlagerung der Schornsteinindustrien bis zur Fußballeuphorie.

Vier große Kapitel umfasst das Buch (Nachkriegszeit 1945 – 1953, Wohlstand und Aufbegehren 1953 – 1971, Rezession 1971 – 1989, Nach dem Zusammenbruch 1989 – 2005), vor jedem Unterkapitel stehen aussagenkräftige Zitate, die sich mitunter widersprechen, mitunter ergänzen, die schlaglichtartig Umbrüche erhellen und auch trockenen Humor besitzen können. »Verträge«, so Charles de Gaulle, »sind wie Mädchen oder Rosen: Sie halten nur eine gewisse Zeit.«

Das im vergangenen Jahr im englischsprachigen Raum erschienene Opus Magnum ist die Frucht jahrelanger Arbeit; die Idee kam Tony Judt bereits in Wien im Dezember 1989, als er begriff, dass 1945 nicht eine neue Epoche anhob, sondern die Jahre 1945 bis 1989 ein »ausgedehnter Epilog des europäischen Bürgerkrieges waren, der 1914 begonnen hatte, ein 40jähriges Interregnum von Adolf Hitlers Niederlage bis zur endgültigen Beseitigung der Folgen, die sein Krieg hinterlassen hatte.«

So waren die Konflikte des Kalten Krieges bereits nach dem Ersten Weltkrieg angelegt, vieles war Kopie, wie die Schauprozesse in Osteuropa gegen Slansky & Genossen nur Wiederholungen der Moskauer Prozesse der dreißiger Jahre waren, die schon den »Justizmord als öffentliches Spektakel« hervorbrachten.

Es wäre beckmesserisch, Detailfehler zu bekritteln wie den, dass seine ehemaligen Kumpane Honecker nicht am 18. November 1989, sondern bereits am 18. Oktober absetzten. Allerdings ist der Verlag gut beraten, wenn er bei weiteren Auflagen, die es bei diesem Standardwerk geben wird, den Band noch mal kritisch überprüfe, da es Fehler und Lücken gibt wie solche, dass der viel zitierte Milovan Djilas im Register nicht auftaucht.

Immer wieder zuckte der Bleistift in meiner Hand bei den vielen treffenden Bemerkungen. Freilich, unverkennbar beurteilt der Autor Großbritannien aus der Nähe und – beispielsweise – die DDR und Jugoslawien aus der Ferne. Mit einem Satz bemisst er die Leistung Margaret Thatchers: »Sie hat nicht nur den Nachkriegskonsens zerstört, sie hat auch einen neuen geschaffen.« Knapper und genauer geht es kaum. Unter dem Slogan »Mehr Wettbewerb!« verlagert sich die Wirtschaftsmacht vom öffentlichen in den privaten Bereich.

Die Passagen nach dem Scheidejahr 1989 lassen sich am schwersten beurteilen, weil jeder ein Verstrickter ist, ohne die Distanzkälte der Analyse. doch auch hier erfährt man Bedenkenswertes (»Das postkommunistische Europa benötigte eigentlich einen Marschall-Plan, doch den bot ihm niemand an.«) und treffende Zitate (»Das Schlimmste am Kommunismus ist das, was hinterher kommt.« Adam Michnik). Erkennend, dass weder Amerika noch China ein Vorbild bieten können, das sich zur universellen Nachahmung eignet, kommt Tony Judt zur überraschenden Schlussfolgerung: »Was vor sechzig Jahren kaum jemand vorhergesagt hätte – das 21. Jahrhundert könnte das Jahrhundert Europas werden.«

Wirklich? Mir will es scheinen, als könnte der alte Kontinent die Rolle nur dann spielen, wenn er eine gesellschaftliche Alternative entwickelt, die auch zentrale Menschheitsfragen wie Klimawandel und das unaufhaltsame Ende der Ölzeit beantwortet. Das jetzige »Modell Europa« könnte sich nur langsamer als Amerika und China dem Abgrund nähern.

In einem Epilog analysiert Tony Judt das moderne europäische Gedächtnis und darin die zentrale Rolle von Auschwitz. »Die Anerkennung des Holocaust ist zur europäischen Eintrittskarte geworden.« Und das war nicht immer so; erst in den siebziger Jahren bekam dieser Völkermord seine zentrale Rolle im kollektiven Gedächtnis. Dabei zeigt der Autor die europäischen Dimensionen: Die Deutschen gaben die Befehle, aber ohne Kollaborateure wäre nie geschehen, was geschah, denn im »einzigen Land, in dem diese Kollaboration verweigert wurde, in Dänemark, überlebten die Juden.«

Allerdings drängen aus dem Osten andere Erinnerungen hervor, die an die Verbrechen des Kommunismus (oder doch: am Kommunismus?). Wie sehr sie das europäische Gedächtnis verändern werden, ist noch offen, sicher ist allerdings, dass
das 20. Jahrhundert für Europa das Jahrhundert von Hitler und Stalin war.

Als ich den Ziegelstein von Buch ins Regal stelle weiß ich, dass er dort nicht einstauben wird. Ich werde ihn brauchen zum Nachschlagen und als Anregung. Wer sich mit der Geschichte Europas befasst, wird daran nicht vorbeikommen können.

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