Henning Mankell, den meint man zu kennen. Das ist der mit dem Kommissar Wallander, ein solider, schwedischer Krimi-Autor. Auch der vorliegende Roman handelt von gewaltsamem Tod. Diesmal aber will die Aufklärung uns mehr erzählen als von Indizienbeweisen und Zeugenaussagen, diesmal trägt die Wahrheitsfindung einen gesellschaftlichen Anspruch in sich, wünscht sich die Handlung eine Gerechtigkeit, die kein Gericht herstellen kann, bestenfalls die Völker. "Der Chinese", so lautet der Titel von Mankells neuem Roman, beschränkt sich auch nicht auf Schweden, selbst wenn er dort seinen Ausgang nimmt. Er beansprucht die ganze Welt als seinen Ort und jene kleinen Plätze in uns, an denen wir uns erinnern, dass wir nur Teile eines ziemlich großen Ganzen sind.
Ein Massaker in einem fast verlassenen schwedischen Dorf ist die traditionelle Ouvertüre: Alles was dort noch lebte, ist an einem Tag, mit einer Waffe gemetzelt worden. Und wie immer, wenn so viele Menschen so grausam sterben, taucht der Verrückte auf, der Einzeltäter, denn wer so viele Menschen umbringt, ohne einen materiellen Gewinn zu erzielen, denn nichts im Dorf deutet auf einen Raub hin, der muss doch verrückt sein. Und wenn er denn geraubt hätte, wäre dann seine Tat normal? - Mankell offenbart dem Leser schnell den Täter. Während die Polizei noch diesen oder jenen verfolgt, erfährt eine Richterin, deren privates Interesse auf ein Tagebuch eines Verwandten stößt, dass die Spur nach China führt.
China, dass war der Richterin einst ein Ziel ihrer Sehnsucht, das kleine rote Buch mit den Mao-Zitaten trug sie als ihre Bibel, zumindest Schweden sollte von ihr und ihrer Gruppe damals revolutioniert werden, später dann auch mehr und eine selbstgenügsame Gemeinschaft hätte es werden sollen, ganz wie in ihr die Volksrepublik schien. Mit leiser Selbstironie und Wehmut erinnert sich die Richterin an diese Zeit und während ihr das Mao-China als ein blasses Bild in rosa Farben abenddämmert, treibt sie die Frage nach dem um, was aus ihr selbst geworden ist: Eine ordentliche Mutter und Beamtin, ein redlicher Mensch, der sich nicht die Finger schmutzig macht, wissend und verdrängend zugleich, dass es in der Welt ganz schön dreckig zugeht.
Es mag ihre Unruhe über die Stille sein, die sie umgibt, ein Treibmittel gegen die verrinnende Zeit, die ihr das Tagebuch eines schwedischen Vorarbeiters beim Bau einer der Eisenbahnlinien, deren Querung Amerikas das große Land für immer veränderten, in die Hand drückte. Das Tagebuch zu finden, ist zum einen der Schlüssel zur Lösung des Massakers, zum anderen eine grandiose Erweiterung des einfachen verbrecherischen Horizonts: Aus dem armen Europa treibt es Menschen in die neue Welt, just zu dem Zeitpunkt, an dem sich das kleinbäuerlich und feudal geprägte Amerika mit ungeheuerlicher Gewalt in den kapitalistischen Riesen verwandelt, den wir heute kennen. Als sich seine Schienenstränge in den jungfräuliche Boden bohren und seine Lokomotiven Menschen und Güter aus aller Welt anziehen und über den Kontinent schleudern.
Wer heute die pittoresken China-Towns in den Städten der USA besucht, wird selten wissen, dass sie auch Denkmale sind, Zeichen der Erinnerung an tausende von Kulis, die beim Bau der großen Eisenbahnen in der noch jungen USA mit der Peitsche zum Graben getrieben wurden, unter Felsen und in der Kälte ihr Leben ließen. Über solche China-Sklaven schreibt der Verwandte der Richterin, voller Hass, denn er ist es, der peitscht, und sie sind es, die sterben. Und wie jeder gute Mörder, dessen Gewinn ein kleiner Lohn oder ein großes Aktienpaket ist, braucht er eine Rechtfertigung: Die Chinesen, Iren oder Neger, denen er vorgesetzt ist, sind ihm der letzte Dreck, den Tieren näher als den Menschen, sie werden verbraucht, wie man Schwellen, Nägel und Schienen braucht, um das Land dem gigantischen Profit zu erschließen.
Mankell nimmt uns mit auf die Reise dreier Brüder aus dem armen China in das vermeintlich reiche Amerika. Zwei von ihnen werden auf der Reise sterben, einer, der den schwedischen Vorarbeiter und dessen Vorliebe für die Knute kennen gelernt hat, überlebt. Er wird zurückkehren in ein China, das längst von den westlichen Mächten kolonisiert ist, dessen Menschenmaterial man nicht mehr importiert, dessen Massen zu Käufern mutiert sind und zu Billigstarbeitern im eigenen Land. Schon früh vertraut Mankell dem Leser an, dass der ehemalige Kuli im wie auch immer kommunistisch geführten China aufgestiegen ist, einer der Verbindungsfunktionäre wurde zwischen Politik und Wirtschaft, einer, der sich die Finger nicht dreckig machen muss, weil er andere dafür bezahlt. Manchmal meint man den enttäuschten Liebhaber zu lesen, jemanden, der auch einmal das rote Buch in der Tasche trug und der sich heute fragt, was denn aus seinen Hoffnungen und seinen Illusionen geworden ist, wenn man Mankells Figuren lauscht.
Nicht ohne dass der Leser es vorher geahnt hätte, reist die Richterin in die heutige Volksrepublik, auf der Fährte des Mörders und in die eigene Geschichte, in jenes China, dessen beschleunigendes Zentrum längst kapitalistisch geworden ist, an dessen Rändern aber die Mehrheit der armen Bauern nur scheinbar geduldig die schweren Lasten der Akkumulation trägt, während sich die oben mit Designerklamotten behängen und mit Statusautomobilen zu ihren Villen fahren. Längst sind die antiimperialistischen Parolen dem Schrei nach Rohstoffen gewichen, längst exportiert man wieder Kulis, nach Afrika, damit sie dort in Bergwerken schuften oder Lebensmittel anbauen. Gern wird vom roten Adel der chinesischen Modernisierer Deng, zitiert, dem es gleich war welche Farbe das Fell der Katze hatte, entscheidend sei, wie viele Mäuse sie fing. Doch in der kommunistischen Partei, so Mankell, wächst die Furcht, die Katze könne auch den Halter fressen.
"Der Chinese" ist ein Buch der Angst. Nicht die üblich Frage nach dem Täter und ob er seiner Strafe zugeführt wird, soll den Leser bewegen. Seitenweise sind die Dialoge politisch, fragen die alten Fragen der Aufklärung und die neuen nach der Rolle der Aufklärung in den Zeiten der Globalisierung. Die Angst um eine Schieflage der Welt ist es, die den Autor antreibt und die er an den Leser weitergibt. Auch wenn der Roman mit einer Strafe für den Mörder endet, auch wenn ein Urteil erkennbar ist, eine Verurteilung hält das Buch nicht bereit. Mankell kann den neuen, großen, internationalen Richter nicht erkennen. Also schreibt er ihn auch nicht.