Die Gemeinschaft, darin sich Europa mit allen Weltteilen durch Schiffe sowohl als Karawanen gesetzt hat, verschleppt viele Krankheiten in der ganzen Welt herum, so wie man mit vieler Wahrscheinlichkeit glaubt, daß der russische Landhandel mit China ein paar Arten schädlicher Insekten aus dem entferntesten Osten in ihr Land gebracht habe, die sich mit der Zeit wohl weiter verbreiten dürften.
Immanuel Kant, Nachricht an Ärzte /1/
Seitdem die Schweinegrippe grassiert, fragt man sich wieder einmal, ob es wirklich sinnvoll war, Amerika zu entdecken. Der südliche Subkontinent wurde mindestens zweimal aufgefunden, zuerst von Amerigo Vespucci und später durch Alexander von Humboldt. Letzterer kam endlich mit Messgeräten statt mit Glücksrittern und genießt deshalb heutigentags in Südamerika eine fast gottgleiche Verehrung.
Die Humboldts sind das Sensationellste, was das preußische Genom zur Menschheit beigesteuert hat. Als Brüder kann man sie durchaus mit Moses und Aaron vergleichen. Auch die Interessenlage beider Brüderpaare ist ganz ähnlich: Metallurgie, Forschungsreisen, Landnahme, Fremdsprachen, Volksbildung, Gesetzgebung. Nur mit Zauberei haben sich die Gebrüder Humboldt nicht befasst.
Das ausgehende 18. Jahrhundert stellt eine Welt dar, in die wir uns nicht mehr hineinversetzen können. Es gibt kein Radio, kein Fernsehen, nicht mal das Handy und ohne Internet auch keine E-mails. Erst in der Revolutionszeit entwickeln die Brüder Chappe den optischen Telegrafen. Trotzdem funktioniert die Kommunikation: Es werden unendlich viele Briefe geschrieben. Und so sind wir über das innere Leben damaliger Berühmtheiten, sofern deren Briefschaften sich erhalten haben, wohl besser unterrichtet als über die Gemengelage heutiger Zelebritäten.
Manfred Geier hat unternommen, uns die Biografie der beiden Titanen zwischen zwei Buchdeckeln auf nur 350 Seiten darzubieten. Die erste Hälfte des Buches ist der Kindheit und Jugend der Brüder, ihrer Erziehung und Ausbildung gewidmet, denn eine Hauptfrage lautet: Wie konnten die Humboldts in Preußen zu hoch gebildeten, freisinnigen, innovativen Denkern werden?
Sie erhalten den besten Privatunterricht. Lehrer sind u. a. Campe, der bedeutende Pädagoge und Jugendbuchautor (von ihm „Robinson der Jüngere“), Kunth, der spätere Reformator des preußischen Gewerberechts, und Engel, der den seinerzeit viel gelesenen „Philosophen für die Welt“ schrieb. Bereits als Jugendliche verkehren sie im Haus des jüdischen Arztes Markus Herz (Brieffreund Kants), geführt von seiner schönen und geistvollen Frau Henriette und lernen dort die Crème de la Crème der preußischen Aufklärung kennen. Geiers Exkurs über die viel geschmähte Berliner Aufklärung ist sehr beachtenswert.
In unserer Pornokratie ist nichts mehr peinlich. Und so kommt es, dass sich Manfred Geier auch intensiv mit der Sexualität der Brüder befasst. Dinge, die früher zum wohlbehüteten Geheimwissen der Historiker gehörten, werden vor dem Leser genüsslich ausgebreitet. Es erfüllt uns mit zeittypischer Befriedigung, zu erfahren, dass Wilhelm ein gewaltiger Beschäler war, sein jüngerer Bruder dagegen sehr schwul. Später wird Wilhelm mit seiner heißgeliebten Caroline, die man in Jeanpaulscher Manier eine Titanide nennen könnte, eine offene Ehe führen.
Längere Bildungsreisen und kürzere Universitätsbesuche folgen. Alexander fährt im Sommer 1790 mit Johann Georg Forster ins revolutionäre Paris und karrt dort begeistert Sand für den Tempel der Freiheit. Er wird zeitlebens ein Feind jeder Sklaverei bleiben.
Bruder Wilhelm bereitet sich indes auf den Staatsdienst vor, indem er im Rheinland hervorragende Kunstwerke betrachtet und die Kritiken Kants studiert. (Ich vermute, dass heutige Staatsdiener sich konditionieren durch den Anblick Beuysscher Installationen und das Querlesen von Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“.)
Der Bekanntheitsgrad der Brüder wächst. Der Staatsminister Goethe begibt sich im Dezember 1794 nach Jena, um endlich Alexander kennen zu lernen, der gerade bei Wilhelm logiert. Leider sind wir über die damaligen Gespräche zwischen Goethe, Schiller und den Humboldts nicht unterrichtet. Dafür gibt Geier Erläuterungen zur Ideengeschichte der deutschen Klassik.
Die zweite Hälfte der Biografie ist der titanischen Lebensleistung der Brüder gewidmet. Auch hier schöpft Geier wieder aus der brieflichen Überlieferung, weniger aus den sattsam bekannten autobiografischen Schriften vor allem Alexanders.
Über fünf Jahre erforscht dieser Süd- und Mittelamerika als Privatmann, auf eigene Kosten. Am Ende wird er die USA bereisen, Präsident Thomas Jefferson in Washington aufsuchen und von einem freien Volk schwärmen, das mit großen Schritten auf die Vervollkommnung des gesellschaftlichen Zustands zugeht. (Geier, S. 230). Da war Guantanamo noch ferne, das Raucherbein der amerikanischen Demokratie.
Als Alexander von seiner Südamerikatour zurückkehrt, ist er eine internationale Berühmtheit, wie vor ihm Forster, der Weltreisende. Er ist bei dem Versuch, den Chimborazo zu ersteigen, der damals für den höchsten Berg der Welt galt, erst kurz vor dem Ziel gescheitert. Galletti, der Gothaer Gymnasialprofessor und ungekrönte König der Kathederblüte, doziert vor seinen Schülern: Als Humboldt den Chimborasso bestieg, war die Luft so dünn, daß er nicht mehr ohne Brille lesen konnte. /2/
Er wird nun zwanzig Jahre im teuren Paris verbringen, dort sein vierunddreißigbändiges Reisewerk herausgeben und erst nach Preußen zurückkehren, als er pleite ist. Arago, der große Physiker erklärt: Mein Freund Humboldt ist das beste Herz auf der Welt, aber auch das größte Schandmaul, das ich kenne. /3/
Wilhelm geht mit seiner Familie nach Paris, später nach Rom als preußischer Ministerresident. Nach Preußens Niederlage reformiert er im Auftrag Steins das preußische Schulwesen, führt im Elementarunterricht die Methode Pestalozzis ein und begründet die Berliner Universität. Dann beginnt seine eigentliche diplomatische Laufbahn, gipfelnd in der Teilnahme am Wiener Kongress, der Preußens Territorium erheblich vergrößern sollte. 1819 wird er preußischer Innenminister, erarbeitet eine Verfassungsvorlage, opponiert gegen die reaktionären Karlsbader Beschlüsse und wird noch im gleichen Jahr auf Betreiben Hardenbergs entlassen. Danach lebt er als Privatgelehrter und begründet die moderne Linguistik.
Wilhelm von Humboldt schreibt bereits 1805 an Chr. Gottfried Körner: Ich habe mir überhaupt oft gedacht, daß es sehr gut wäre, wenn man seinen Tod drei, vier Jahre vorher wüßte. Solange man das Leben als eine unbestimmte Größe ansieht, kann man nicht anders, selbst im höchsten Alter, als es wie ein Kontinuum zu behandeln, sehr vieles zu tun, was nur auf das Leben selbst, nicht auf seine höheren Zwecke Bezug hat…/4/
Bis zu seinem Lebensende arbeitet Wilhelm an dem dreibändigen Werk „Über die Kawi-Sprache auf der Insel Jawa“, als Titel oft zitiert, doch kaum gelesen.
Anders steht es um Alexanders Alterswerk „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“, das ein Bestseller wird. Alexander beendet 1844 das Vorwort: Ein Versuch, die Natur lebendig und in ihrer erhabenen Größe zu schildern, in dem wellenartig wiederkehrenden Wechsel physischer Veränderlichkeit das Beharrliche aufzuspüren, wird daher auch in späteren Zeiten nicht ganz unbeachtet bleiben. /5/
Alexander kehrt 1827 nach Berlin zurück und widmet sich der Vorlesungstätigkeit. 1829 folgt eine Forschungsreise durch das Russische Reich (2320 geografische Meilen in neun Monaten) bis an die Grenze Chinas, das die ersehnte Reise nach Tibet verwehrt. Der lange Lebensabend ist der gelehrten Arbeit und dem wenig geliebten Hofdienst gewidmet. Denn Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker auf dem Königsthron, er googelt nicht. Er fragt bei Tisch einfach den königlichen Kammerherrn Alexander von Humboldt.
Seit Goethe’s Tod rückt er allmählich in den Mittelpunkt des nationalen Ruhmes, seit dem Erscheinen des „Kosmos“ behauptet er unbestritten diesen Platz. … Mit ewig gleicher Leutseligkeit behandelte er Hoch und Gering, Gelehrt und Ungelehrt. Der Umfang, die Pünktlichkeit und der höfliche, selbst schmeichlerische Ton seiner Correspondenz suchen ihresgleichen. /6/
Der Altersweise resümiert am Ende seines fast neunzigjährigen Lebens: Das ganze Leben ist der größte Unsinn. Und wenn man achtzig Jahre strebt und forscht, so muß man sich doch endlich gestehen, daß man nichts erstrebt und nichts erforscht hat. Wüßten wir nur wenigstens, warum wir auf dieser Welt sind? Aber Alles ist und bleibt dem Denker räthselhaft, und das größte Glück ist noch das, als Flachkopf geboren zu sein. /7/
Geiers Humboldt-Biografie ist noch von altem Schrot und Korn. Alle Zitate hat der Autor in den Anmerkungen belegt. Ferner ist dem Buch ein Literaturverzeichnis beigegeben, das vor allem die jüngeren, leicht erreichbaren Quellen verzeichnet. Den Apparat krönt das Personenregister. Fein gemacht, Manfred Geier!
Anmerkungen:
/1/ Kants sämtliche Werke, Insel 1924, Bd. 6, S.671
/2/ Joh. G. A. Galletti, Gallettiana, Rockstuhl 2008, S. 32 (Nr. 229). Galletti starb 1828.
/3/ Anneliese Dangel, Alexander von Humboldt. Sein Leben in Bildern, Leipzig 1959, S. 39
/4/ Brief an den Vater des Dichters der Befreiungskriege anlässlich von Schillers Tod. Jena und Weimar, Almanach von Diederichs 1908, S. 25
/5/ A. v. Humboldt, Kosmos, Cotta 1845, Bd. 1, S. XV f.
/6/ Allgemeine Deutsche Biographie, 16. Bd., S. 382
/7/ [Anonym], Memoiren Alexander von Humboldt’s, 2 Bde., Leipzig 1861, nicht von Humboldt selbst verfasst, aber jedenfalls aus seinem engen Umkreis stammend. Herausgeber ist vermutlich Julius Löwenberg. Zitiert nach: Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin, 1959, S. 353