Die herrschende Vorstellung von den Drachen war die, dass sie auf dem Gold liegen und davon leuchten, die Schätze bewachen und nachts durch die Lüfte tragen. Sie galten gleich den Riesen für alt und hoch begabt.
Götzinger, Reallexikon der Deutschen Altertümer
Dann besuchten wir das naturgeschichtliche Kabinett. … Der Verwalter zeigte uns ein in Stroh gewickeltes Bündel, in dem, wie er sagte, das Skelett eines Drachens stak. Dies sei ein Beweis, dass der Drache kein Fabeltier sei.
Giacomo Casanova, Memoiren
Die fabelhaften Drachen der Vorzeit wurden deshalb ausgerottet, weil sie Schätze hüteten. Da die Kleinodien, wie schon der Name sagt, meistens kleinformatig waren, werden auch die Drachen so groß nicht gewesen sein. Sie schauten mitnichten aus wie die gigantischen Clenbuterol-Drachen Hollywoods, sondern ähnelten mehr dem kleinen Feuerwehrdrächelchen Grisu oder dem Kuscheldrachen Tabaluga. Ihre degenerierten Nachfahren kennen wir aus Siehlmanns Tierfilmen. Es sind Komodo-Warane, Gürteltiere, Flugechsen und Grottenolme.
Die Zeiten überdauert hat dagegen der gemeine Hausdrache. Wenn vor hundert Jahren der Berliner sagte: „Ick lass’ mein’ Drachen steijen“, dann meinte er: Ich gehe mit meiner Frau spazieren. Der gleichlautende Ohrwurm von den Puhdys ist oft missverstanden worden.
Den Drachen ergeht es wie den Walen. Früher hielt man sie für Ungeheuer, doch seitdem sie selten geworden sind, werden sie geliebt. Die letzten ihrer Art dienen in Büchern und Filmen mit Vorliebe als Transportmittel. Sie retten andauernd kleine Kinder, heiße Bräute und schuldlose Delinquenten. Was uns bisher fehlte, war ein authentischer Roman, der unter Schuppentieren spielt. Diese fühlbare Lücke ist durch die „Handschrift von Espodrana“ endlich geschlossen worden.
Im Unterschied zu Jan Graf Potockis „Handschrift von Saragossa“, die einer überfeinerten Epoche entstammt und raffiniert vernetzt in mehreren Zeit- und Handlungsebenen verläuft, basiert die „Handschrift von Espodrana“ auf der linearen Erzählweise des modernen Fantasyromans. Der Ich-Erzähler, ein akademischer Drache, nennt sich Adelin von Wendelstrepp (die meisten Drachen sind von Adel). Er haust unter seinesgleichen in Espodrana, dem Refugium der Drachenpopulation. Diese Enklave erinnert geografisch an Spanien mitsamt den Kanaren, und was die Ess- und Trinkkultur betrifft, vielleicht auch an Südfrankreich. Dazu passt, dass die im Mittelalter von den Rittern der Tafelrunde abgeschlachteten Drachen okzitanisch parlierten, wie sich den Artusromanen des Chrétien de Troyes unschwer entnehmen lässt. Der neuzeitliche espodranische Drache spricht aber wohl eher ein verderbtes Katalanisch. Nach dem Drakologischen Handbuch deuten dieses Faktum und die bipedische Gangart auf die Rasse des lebendgebärenden romanischen Drachens. Der eierlegende nordische Lindwurm hingegen ist ein flugtauglicher Vierfüßler, redet normannisch und speit Feuer. Sein Feuerschnauben ist ein Relikt der Eiszeit und diente ursprünglich dazu, das Gelege warm zu halten.
Espodrana ist für die Masse Mensch ganz unzugänglich. Nur auserwählte Individuen, Leute wie ihr und ich, liebe Bücherwürmer, dürfen einen Blick in diese Parallelgesellschaft riskieren. Umgekehrt weiß die Drachenbrut nichts von der Menschenwelt, was vermutlich auf einem Verdrängungsmechanismus beruht. Die Heimstatt der Drachen ist frei von jeglicher neumodischer Technik. Dafür wird vortrefflich gekocht, üppig geprasst und noch besser getrunken. Trotzdem sind die Drachen kerngesund (bis auf gelegentliche Schuppenflechte) und werden steinalt. Gerhard Schumacher, der Wanderer zwischen den Welten der Menschen und Drachen, der fleißige Übersetzer der Handschrift aus dem Drakonischen, gab sich redliche Mühe, in seinen gelehrten Anmerkungen Analogien zu unserer Daseinsform aufzufinden. Doch wie vermag der ehrbare, friedfertige Drache mit der Bestie Mensch zu konkurrieren?
Wartet es ab, untierliebende LeserInnen!
Im freien Drachenland hat sich eine terroristische Vereinigung etabliert, eine schlimme Mixtur aus Illuminati und Ku-Klux-Klan. Der drachengeile Geheimbund stützt sich besonders auf fehlgeleitete Kneipiers und arbeitslose Jugendliche. Ihr aller Anführer ist ein mysteriöser Böser. Das lichtscheue Gesindel betreibt Mord und Totschlag sowie eine verfallene Burg mit fackelbeleuchtetem Verlies und finsteren Geheimgängen. Ein oktogonales Labyrinth mit Falltüren und tiefen Schächten und die unterirdische Zentrale im Hafen verbrauchen weitere Fackeln. Die ganze Geschichte kommt sehr düster, aber gänzlich jugendfrei daher. Wenn die Drachen brünstig wären wie das Menschenvolk, stünden sie sich im idyllischen Espodrana gegenseitig auf den Schwänzen.
Die Hüter der freiheitlich-drakonischen Unordnung suchen und finden sich: Drei Drakademiker, die öffentliche Rede und geheime Schrift beherrschen, eine Drachenhexe, die aus Katzenpisse CS-Gas destillieren kann, ein kreuzbraver Buchhändler, ein nimmermüder Drache, umgetriebener als Melmoth der Wanderer, zwei kräftige Jungdrachen, die ordentlich hinlangen, endlich Drachenmädel, allzeit bereit zum Kochen und Scharpie zupfen. Sie prallen nachts auf schwer bewaffnete Kuttenträger und extragroße Bluthunde. Es wird nicht lang gefackelt. Wer nicht stirbt, der fängt und wird gefangen.
Terroristen sind auch in Espodrana nur durch Folter auszuquetschen. Manchmal geht’s den Drachen wie den Leuten. Wie zuletzt in Guantanamo werden deshalb die Gefangenen gesunder Gliedmaßen beraubt und in Todesangst versetzt. Für die Guten ist es unabdingbar, die volle Wahrheit von den Bösen zu erfahren und dazu ist jedes Mittel recht. Anders als die Folterknechte der Leitkultur kämpfen die Drachen danach mit Gewissensbissen, die durch Syllogismen geheilt werden. Ewig gilt die alte Drachenweisheit: Jedwede Sache ist gerecht, jedenfalls immer aus der Sicht derjenigen, die sie verbreiten. (S. 261)
Endlich wird die Bosheit ganz überraschend entlarvt und es kommt zum Showdown. Der stimmt uns nachdenklich, weil die Handschrift mit der Parole endet: Der Kampf geht weiter!
Happyendverliebte LeserInnen, ihr ahnt es, das kann nicht alles gewesen sein.
Ich hoffe sehr, dass Gerhard Schumacher nächtens beim Schein der Petroleumlampe, gebeugt über Pergamente, Palimpseste und seinen Laptop, unermüdlich weitere Manuskripte aus dem Drakonischen übersetzt und mit seinen schnurrigen Kommentaren verziert.