Daniela Dahn war dabei, als in der DDR alles möglich schien, als für ein paar Monate die alte Macht nicht mehr konnte und die da unten nicht mehr wollten. Der Nachbar im Westen, zumindest seine bestimmenden Kräfte, wusste immer, was er wollte: Die DDR schlucken. Auch deshalb muss die Schriftstellerin heute feststellen: "Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus". Dahn war eine von denen, die in den Jahren 1989/90 versuchten, eine andere, eine bessere DDR zu erreichen. Wenn sie heute auf den kurzen, historischen Moment des "Wir sind das Volk" zurückblickt, analysiert sie kühl: "Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Für die Sieger war das schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte. Das Neue bestand darin, den alten Spielregeln beizutreten." Und auch darin, dass "95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens in westliche Hände übergingen. Damit war über den Grad der Abhängigkeit der Neubundesbürger entschieden."

Es ist nicht Wehmut, die Daniela Dahn treibt, wenn sie zurückblickt, es ist Wut. Es ist die Wut darüber, dass "Die Zahl der bundesdeutschen Millionäre sich verdoppelte auf über eine Million, während im Osten mit der ersehnten D-Mark die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg." Die Wut über den nahezu kompletten Austausch der Eliten und die Folgen bis heute: "Von 35 Ministern und Staatssekretären der Bundesregierung kommen gerade einmal zwei aus dem Osten. Nur zwei sind es auch unter den 140 deutschen Botschaftern. Und die Tendenz der Teilhabe ist weiter fallend. Auch in Ostdeutschland selbst sind immer noch 80 Prozent der Führungspositionen von Westlern besetzt." Und sie notiert eine wesentliche Folge dieser Entmachtung der DDR-Bevölkerung: "Die Quittung für soziale Kälte und politisches Versagen ist die AfD." Sie erinnert unter der Überschrift "Stasi forever?" an die Sense, mit der jede Menge Köpfe auf dem Gebiet der DDR abgeschnitten wurden: "Als am 3. Oktober 1990 noch allerorten die Vereinigungsglocken läuteten, nahm die erste und größte Bundesbehörde im Beitrittsgebiet mit ihren bald 3000 Mitarbeitern bereits ihre Arbeit auf: die des Sonderbeauftragten für die Daten des Staatssicherheitsdienstes".

Man darf sich bei der klugen und genau recherchierenden Daniela Dahn immer auf präzise Zahlen und überraschende Vergleiche über die Gauck-Behörde freuen: "Die Mammutbehörde war der Kohl-Regierung so viel wert, dass sie jährlich etwa 100 Millionen Euro Steuergelder bekam. Das ist mehr, als die gesamte privatwirtschaftilch betriebene und staatlich bezuschusste Industrieforschung in den neuen Ländern zur Verfügung hat." Wer sich an die Jahre der Liquidierung allen Widerspruchs gegen die feindliche Übernahme der DDR durch die Treuhand und die angeschlossenen Behörden erinnert, der weiß auch noch vom täglichen Stasi-Medien-Frühstück: Kaum ein Tag verging, an dem nicht ein neuer angeblicher Stasi-Agent entdeckt wurde. Und wenn es gerade mal keinen neuen gab, dann wurde Gregor Gysi immer und immer wieder aufs neue "entlarvt", immer mit denselben, unbewiesenen alten Vorwürfen. Denn mit der PDS, der er in dieser Zeit vorstand, erhob sich der Teil der eingesackten DDR, der sich an sich selbst und seine Wirklichkeit erinnerte.

Damit dieses Erinnerungsvermögen so schnell wie möglich verschwand, fuhren die westlichen Medien eine Rufmordkampagne nach der anderen: "Dass von den westlichen Siegern zuerst gerade die Posten angegriffen wurden, mit denen sich zumindest Teile der DDR-Bevölkerung am ehesten identifizierten, war absehbar. Bisher verehrte prominente Sportler, Schriftsteller, Schauspieler, Ärzte, sogar Tierpark-Direktoren oder Kosmonauten sahen sich mit Anschuldigungen verschiedenster Art konfrontiert und wurden öffentlich zerlegt." Wenn der Rufmord nicht reichte, musste das Verschweigen die Umwertung der DDR übernehmen, belegt Frau Dahn: "Nach der für Deutschland desaströsen 1. Pisa-Studie von 2001 erzählte mir ein Mitarbeiter der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: «Wir sind mit einer Delegation nach Helsinki gefahren, um herauszufinnden, was ihr Bildungswesen so erfolgreich macht. Das darf man ja heute gar nicht laut sagen», und er schaute sich tatsächlich um und sprach leise weiter, «aber die Kollegen haben uns erstaunt gefragt, weshalb wir so eine weite Reise unternommen haben, sie hätten das Skelett ihrer Einheitsschule mit ganzheitlicher Betreuung und praxisbezogenem Unterricht nach vielen Studienreisen in die DDR doch von dort übernommen». Das darf man offenkundig bis heute nicht laut sagen, schreiben oder senden. In einer Art Omerta bleibt der Mund der Medien verschlossen, wenn es um jene gesellschaftlichen Bereiche im Systemvergleich geht, in denen die DDR der alten Bundesrepublik und dem vereinten Deutschland überlegen war.

Bei der Offenlegung der AfD-Wurzeln bleibt die akribische Autorin natürlich nicht bei der Dauer-Demütigung des Ostens stehen. Sie findet "Rechtslastige Signale aus allen Staatlichen Stationen". Und nicht wenige sind eng mit der Abwicklung der DDR verknüpft. Wie zum Beispiel die Auswechslung des beliebten Rektors der Humboldt Universität, des Theologen Professor Heinrich Fink. Er musste Wilhelm Krelle, dem einstigen SS-Sturmbannführer und 1. Generalstabsoffizier der SS-Panzerdivision «Götz von Berlichingen» weichen. Bis heute darf Krelle seine Ehrendoktorwürde behalten, obwohl weitere Dokumente gefunden wurden, die eine fanatische, nationalsozialistische Gesinnung Krelles bis in die letzten Tage des Krieges hinein belegen. Neben der notwendigen Erwähnung des NSU-Skandals und des gezielten Versagens des Verfassungsschutzes fällt der kenntnisreichen DDR-Bürgerin Dahn der General-Angriff auf den Antifaschismus der DDR auf. Der sei nur verordnet gewesen, erzählt der Westen, und ihm fehle vor allem das Thema Holocaust und Judentum. Dass es in der DDR 2000 Filme und Bücher zum Thema gab, fällt bei dieser ideologisch gewollten Blindheit ebenso unter den Tisch wie die jüdische Herkunft wichtiger DDR-Funktionäre. So bereitet man neuen Nazis eine bequeme Straße zur Macht: Durch Lügen und Verschweigen.

"Was hat der Sieger in den letzten 30 Jahren mit seinem Triumph angefangen?" Diese brisante General-Frage kann der gescheite Leser von Dahns Buch durch Augenschein selbst beantworten. Denn da der böse Feind – der Sozialismus, die DDR, die Sowjetunion – doch erledigt ist und der Kapitalismus ungestört sein segensreiches Wirken entfalten kann, könnten doch jetzt Armut und Kriege beendet werden. Doch "Der sang- und klanglose Abgang des hochgerüsteten Warschauer Pakts, einst Hauptfeind der Nato, hat nicht den ewigen Frieden beschert. Nicht mal ein Kalter Frieden folgte dem Kalten Krieg." Armut, Hunger und Flucht bestimmen die Welt nach Ende des Sozialismus.

Daniela Dahns Buch über den "Schnee von gestern", der zur "Sintflut von heute" geworden ist, gibt dem Leser eine Fülle von Denkanregungen, verknüpften Themen und Fakten. Auf dem Weg vom Ende der DDR kann der Leser, durchaus folgerichtig, zu den Kämpfen im Jemen kommen und wird sogar angeregt, sich über die Anschläge vom 11. September 2001 Gedanken zu machen: "In die Aufdeckung des Clinton-Lewinsky-Sexskandals ist achtmal mehr Geld investiert worden als in die Analyse des Tages, der die Welt veränderte" schreibt die Autorin und beweist nicht nur, dass Daniela Dahn vorzüglich und ernsthaft recherchiert, sondern auch, dass ihr bei dieser harten und klugen Arbeit der Humor nicht verloren gegangen ist.

Lesung und Gespräch mit Daniela Dahn
"Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute"
Moderation Uli Gellermann
Buchhändlerkeller Berlin
Carmerstraße 1 

Am 15. 10. 2019, um 20:30 Uhr