Schon vor der Berlinale (8. 2. - 18. 2.) kann man einige der dort gezeigten Filme in Previews sehen.
Die RATIONALGALERIE beginnt ihre
Berlinale-Berichterstattung mit diesen Filmen.

Mindestens zwei mal kommt sie vor, die erheiterndste Szene des Films: Ein kleiner Junge pisst vom Balkon eines Hauses auf den Streifenwagen, der im Ineren des Hofes abgestellt ist, umschlossen von einem Karree pittoresker Häuser. Kaum trifft der Junge das Auto, schon bringt er Sirene und Blaulicht ins Heulen und Aufblitzen und der im Haus lebende Milizionär, sich die Rasierseife aus dem Gesicht wischend, stellt wütend den Alarm ab. Was wie ein neckisches Spiel erscheint, hat einen düsteren Hintergrund und die Szene löst sich anders auf, als erwartet. Immer wenn der dicke Polizist den Jungen ausschimpfen will, tritt dessen Vater auf den Plan und der aufgeplusterte Beamte sackt devot in sich zusammen. Der Hinterhof befindet sich in Baku, der "südlichen Stadt" und der Film handelt Ende der achtziger Jahre. Die alte Sowjetunion, zu der Aserbeidschan und Baku gehören, befindet sich in der Auflösung und der Kampf der unterschiedlichen Nationalitäten, der später weite Teile des Sowjetgebietes erfassen sollte, hat in Aserbeidschan begonnen.

Es ist eine merkwürdige Stadt, durch die uns die zentrale Figur des Films, Alik (Teimour Badalbeily) mit lächelnder Melancholie führt. Eine Stadt, in der kaum einer richtig arbeitet, in dem der Schlendrian der späten Sowjetunion sich mit südlichem Laissez-fair verbindet, ein Ort, von der Ölindustrie geprägt und doch in seinen alten Vierteln scheinbar seit Jahrhunderten unverändert. Alik ist ein Mann mit Respekt: ein guter Vorarbeiter, ein Macho nach außen und ganz drinnen ein echtes Weichei, einer der seine Angebetete tagelang verfolgt ohne sie anzusprechen und der mit einer Pistole in der Tasche herumläuft und den Rächer der Enterbten gibt. Der Darsteller des Alik meistert diese ambivalenten Aufgabe mit jener Leichtigkeit, die zumeist beachtliches Talent und viel Arbeit hervorbringt.

Baku war den Deutschen in ihrem letzten Krieg aus den Wehrmachtsberichten gut nicht unbekannt bekannt: Ihres Öls wegen war die Stadt Ziel der deutschen Armee. Fast 300.000 Aserbeidschaner (Aseris) verhinderten gemeinsam mit den vielen anderen Nationalitäten in der sowjetischen Armee den Sieg der Nazis. Lange galt dieser Krieg und die Union der Sowjetrepubliken als Klammer für die viele Nationen, auch für die, die auf dem Boden der heutigen Republik Aserbeidschan neben den Aseris lebten: Russen, Armenier, Mescheten, Juden, Tartaren und noch ein paar mehr. Doch in der Auflösungsphase der Sowjetunion, Ende der achtziger Jahre, brach diese Klammer auf und der erste Nationalitäten-Krieg auf dem Boden der noch existierenden Union entzündet sich in Nagorny Karabach, jenem autonomen Gebiet in der Sowjetrepublik Aserbeidschan, in dem die mehrheitlich Armeniern lebten und die Aseris eine starke Minderheit bildeten.

Charly Parker interessiert die Jazzmusiker, die in einem Keller des Hinterhofs, in dem die ganze Welt wie in einer Nussschale abgebildet ist, weit mehr, als irgendeine autonome Gebirgsrepublik. Auch die Auflösung des großen Sowjetgebildes berührt sie nicht sonderlich. Sie machen Jazz, und den, auf traditionellen aserischen Instrumenten gespielt, exzellent. Auch ihre Frontfrau Maya, die schöne Tochter einer Russin und eines Aseri, will groß rauskommen, Politik oder Nationalitätenkonflikt interessieren sie nicht. Alik, der jungen Frau verfallen, will den Musikern helfen, als sie aus ihrem Keller raus sollen, um den flüchtigen Aseris aus Nagorny Karabach Platz zu machen. Denn inzwischen kam es zu Anti-Armenischen Pogromen, die mit Anti-Aserbeidschanischen Pogromen beantwortet wurden, nationale "Säuberungen" machten alle beteiligten Hände dreckig, nur die Verursacher, die politischen Drahtzieher auf beiden Seiten, wuschen die ihren in Unschuld. Nachdrücklich betont der Film durch seinen häufigen Wechsel von der Aserbeidschanischen Sprache zur Russischen und zurück, wie sehr das Russische als Lingua Franka des Nationen-Gemisch funktioniert und wie selbstverständlich die unterschiedlichen Völker nebeneinander lebten.

Es ist der Vater des kleinen Pissers, der die Konjunktur des Nationalismus, der im Konflikt mit den Armeniern entbrannte, zu seinem Aufstieg nutzt. Mit düsteren Parolen über den Untergang des Vaterlandes, über die heilige Erde von Nagorny Karabach und das Leid der Flüchtlinge schwingt er sich zum Herrscher des Hinterhofes auf, so wie sich die heute in Aserbeidschan Mächtigen mit der Flagge der aserischen Nation ihren fetten Happen aus dem Ölkuchen gebissen und den Staat unter den Nagel gerissen haben. Dass Alik, der naive Held, das Überbleibsel aus einer Zeit, in der die Nationalität eine geringere Rolle spielte als das Quantum Wodka, das einer vertragen konnte, in dieser schönen neuen Welt keinen Platz mehr hat, versteht sich. Das alles ist in "Good Bey, Southern City" von Oleg Safaraliyev, nur in vorsichtigen Andeutungen zu erfahren. Das mag daran liegen, dass in der "Präsidialrepublik", wie das deutsche Auswärtige Amt Aserbeidschan freundlich zu nennen beliebt, die Wahrheit der Schleichpfade bedarf. Auf diesen Pfaden aber beschert uns der Regisseur Bilder von eindringlicher Schönheit.

Die ausufernden Fress- und Saufgelage der Männer illustrieren eine Männergesellschaft ohne Zeit, in der die Tische eines zweifellos armen Landes wie von Zauberhand reich gedeckt werden. Zum heimeligen Bild der Hinterhofgemeinschaft gehört Aliks Mutter, die scheinbar Tag und Nacht ihre Fladenbäckerei auf offenem Feuer betreibt und den Sohn nicht nur mit Zehrung versorgt, sondern auch mit deftigen Sprüchen. Ein Schaf, als Hauptgang für eine Beschneidungsfeier, deren Termin immer wieder verschoben wird, gekauft, kann für Wochen zum gestreichelten Mitbewohner des Hofs werden. Immer wieder nehmen Kamera und Regie den Betrachter mit in eine fremde, freundliche Welt, die nur langsam der Bedrohung durch politische Radikalisierung weicht,

Für den deutschen Zuschauer mag der Film zu verschlüsselt sein, zu viele Hintergrundinformationen vorauszusetzen. Deshalb seien hier ein paar nachgetragen: Der jetzige Präsident der Republik Aserbeidschan ist der Sohn des vorhergehenden. Neun der zehn reichsten Männer der Republik sitzen in der Regierung. Der Staatshaushalt gibt zehn Prozent für Rüstung und ein Prozent für Bildung aus. Der Anteil der erheblichen Korruption ist im Staatshaushalt nicht ausgewiesen. Die Republik ist in eine NATO-Partnerschaft eingebunden. Die Öl-Industrie Aserbeidschans, früher staatlich, gehört heute weitgehend der Britisch Petrol (BP). Die Weltbank verzeichnet, trotz des hohen Ölpreises, eine Armutsquote von 47 Prozent. Wer sich erinnern kann, eine alte Methode des Denkens, die immer seltener wird, hat die allgemeinen Glücksverheissungen, die das Ende der Sowjetunion begleiteten noch im Ohr: Demokratie, allgemeiner Wohlstand und grenzenlose Freiheit werde ausbrechen, versicherten die Prediger des Marktes.

Der Film läuft während der Berlinale in der Sektion "Panorama". Ob er je in ein deutsches Kino kommt ist zweifelhaft. Aber gerade deshalb ist es ein Verdienst der Sektion, die solchen Filmen ein Stück Öffentlichkeit verschafft, die ihnen sonst kaum vergönnt sind.

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