Das kann man sich in München, Hamburg oder Berlin nicht so recht vorstellen: Draußen spendiert ein staubiger Sommerabend über 30 Grad Hitze und drinnen, in einer Scheune, wälzen sich die Grade auf 40 und die Sängerin singt und das Publikum lauscht ihr andächtig, nur das ewige Tropfen von Schweiß stört ein wenig. Die Sängerin ist Barbara Thalheim, die Disseuse des Ostens. Die Scheune steht in Kremmen, ein Ort am Rande des Rhinluchs, rund 30 Autominuten von Berlin entfernt , dort wo die Störche an Kanälen klappern, die der große Friedrich hat graben lassen, um die Ackerfläche des armen Preußens zu vergrößern und die arme DDR die Gräben Ende der 70er Jahre so gründlich entwässert hat, dass das Gebiet heute an Austrocknung leidet.

Die Thalheim steht mit ihrer Band auf einer Guckkastenbühne, auf der eigentlich nur sie und ihr Akkordeonist, Jean Pacalet, Platz hätten, leider müssen sie sich das Plätzchen mit einem Bassisten, einem Gittaristen und der raumfressenden Maschinerie eines Percussionisten teilen. Das ist vergessen, als die ersten Töne anheben das Publikum zu faszinieren. Es sind eine Reihe neuer Lieder, die Aufmerksamkeit erfordern, neue Texte, wie das vom »Kinderland«, eine Ballade über `Mein flaches Land, versunkner Kontinent, Vinetastrand´. Gemeint ist die DDR und jetzt wäre die Gelegenheit so richtig günstig, sentimental zu werden, aber Barbara Thalheim bricht, erinnert an die Zwerge jener Zeit, die sich zu Riesen aufpumpten und an den August, in dem die Maurer Konjunktur hatten und kann mit der Komposition doch nicht die eigene Kindheit abstrafen. So steht die anrührende Musik gegen den bitteren Text, das Publikum begreift, klatscht und will nicht aufhören.

Was sind das für Menschen, die sich den manchmal schwierigen Texten der Thalheim und der keineswegs simplen Musik in der Theaterscheune, die ihre Betreiber ironisch »Tiefste-Provinz« nennen, ergeben? In weißen, aufgekrempelten Ärmeln ist der Kremmener Oberbürgermeister gekommen und der aus Oranienburg, schlipsfrei, auch. Alles Leute, die DDR noch als Wesen kennen gelernt haben, nicht als das Unwesen einer Geschichtsschreibung, deren Absicht verstimmt. Die Frauen, trotz der hohen Temperaturen mit bunten, langen Kleidern fast formell gekleidet, die Männer eher im Hitzefreizeit-Look. Mann ist Autohändler oder Arzt, Frau arbeitet als Lehrerin oder Krankenschwester. Wenn es ihn noch gäbe, könnte in der Scheune der Mittelstand versammelt sein.

Beide Tore werden weit geöffnet, mit der etwas kühleren Nachtluft dringen Falter ein, sie taumeln um die Bühnenscheinwerfer herum. Die Band lässt Afrika anklingen und die Thalheim, mit einer Stimme zwischen Dietrich und Makeba, trägt die Fragen einer jungen Afrikanerin vor: Warum habt ihr Europäer so viele Schuhe, warum macht ihr Ehe statt Liebe, warum lest ihr so viel und wisst so wenig. An den Kongo denkend wäre eine Frage nach dem »entsetzlich großen Maul« des westlichen Wolfes, der unter der Haube der gütigen Großmutter die kongolesischen Wahlen militärisch begleitet, legitim gewesen. Die aus Kremmen, aus Beetz, Flatow, Groß-Ziethen, Hohenbruch, Sommerfeld und Staffelde haben jüngst gemeinsam die »Kremmener Erklärung« gegen Rassismus verabschiedet und wiegen sich zur Thalheimschen Musik behutsam in den Hüften, das gilt im Fontaneland als ziemlich ausgelassen.

Barbara Thalheim hat ein neues Lied zur Arbeitslosigkeit mitgebracht, das nicht vom Geld handelt, sondern über Stolz und einen ziemlich frechen Blues, der Lust am Tanzen weckt und dann ein Heimatlied, die Umtextung von »Am Brunnen vor dem Tore«, poetisch der neuen Zeit gewidmet. Jetzt gucken die aus dem Rhinluch ein wenig feucht. Es ist die deutsche Heimat, die von der Thalheim besungen wird, an der sie manchmal leidet und der sie sich, mal wieder mit einer Sommertour übers Land, in Greifswald, Userin oder Ückermünde, verpflichtet. Es wäre denen aus München, Hamburg und Berlin zu gönnen, wenn sie die Sängerin in Röbel, Kühlungsborn, in Wismar, Poppendorf oder Templin besuchen würden. Weil es gut tut die Lieder zu hören, und weil das Gesicht der Provinz an solchen Abenden schöner ist, als man glauben mag.