In einem anonymen, illustrierten Flugblatt aus dem Jahr 1500 mit dem Titel »Krieg der Mäuse gegen die Katzen« werden Sinn und Zweck von Massenmedien mit einem Schlag sichtbar: Mäuse belagern eine Katzenburg, sie sind die Vielen, die Katzen sind in der Unterzahl, besitzen aber eine Burg. Es ist die gezeichnete und gedruckte Parabel auf die Auseinandersetzung zwischen den Bauern und dem Adel. Eine Gruppe von Mäusen hängt eine Katze auf. Das Flugblatt soll, anders als das zu dieser Zeit noch sehr teure Buch, viele erreichen. Auch die, die des Lesens nicht kundig sind. Indem es Handlungsanweisung gibt, zeigt es unterschiedliche Interessengruppen auf und macht den Absender deutlich: Die revolutionären Bauern, die gegen ihre Unterdrückung durch den Adel und damit um die Macht in der Gesellschaft kämpfen. Um in die Nähe dieser Eindeutigkeit zu gelangen braucht Roger Silverstone mit seinem Buch »Anatomie der Massenmedien Ein Manifest« dreihundert Seiten.
Am Ende seiner langen Vorlesung, während der Silverstone uns immer mit dem nächsten Schritt vertraut macht (Das habe ich jetzt vor, das lesen Sie gleich, etc.), kommt dem Autor eine Idee, eher eine Ahnung: »Natürlich geht es letzten Endes um Macht«. Auf dem Weg zu dieser Teilerkenntnis, denn vornehm schweigt Silverstone, um wessen Macht es geht, die Katze hat keinen Namen, bedient sich der Medienwissenschaftler einer Fülle von Gemeinplätzen und flächigen Erkenntnissen, die er wie einen Teppich vor dem Fernseher ausrollt: »Nicht betreten« ist da eingewebt, darauf schlafen ist gestattet. Da der Autor den Medien nicht völlig zu Unrecht eine Rolle bei der Bewältigung des Alltags, im Erkennen der Realität zuweist, sucht er nach jenem Code, jener allgemeinen Vereinbarung, die gesellschaftliche Kommunikation möglich macht und findet sie im »common sense« Dieser »gesunde Menschenverstand«, der dem Leser im Verlauf des Buches häufiger als Metapher begegnen wird, diese unausgesprochene Vereinbarung über Zeichen und Werte, »...befähigt uns, unser Leben mit anderen zu teilen und zugleich unser eigenes Leben zu leben.« Möglicherweise dieser Annahme wegen glaubt Silverstone, dass »Der flackernde Bildschirm . . . uns, für einen Moment zu einer nationalen Gemeinschaft« macht.
Dass der gesunde Menschenverstand manchmal ganz schön krank daher kommen kann, dass die Wertevereinbarung in unterschiedlichen Gruppen und Schichten gravierend von einander abweichen oder zumindest jeden Moment gekündigt werden können, das ficht den Theoretiker kaum an. Im Gegenteil, im Zuge der Medienerforschung gelingt ihm der fundamentale Satz: »Erfahrungen, auch medial vermittelt, sind real.« Unzweifelhaft ist der blaue Fleck im Ergebnis eines Stolperns real. Aber schon die Meinung des Stolpernden über die Ursache des Stolperns kann Erfahrung negieren: Der Stein war´s und nicht der Suff, zum Beispiel. Was Medien aus dem Stolpern machen können ist bekannt: Den tiefen Fall oder einen eleganten Tanzschritt. Trotzdem beharrt Silverstone darauf, dass die »Geschichten« (die öffentlichen wie die privaten) uns befähigen zu verstehen, »wer und was und wo ich bin«. Wer nach der medialen Verarbeitung des Anschlags auf das World Trade Centers, der Grundlage für den »Krieg gegen den Terror«, noch an die Befähigung zur Erkenntnis durch das Erzählen öffentlicher Geschichten glaubt, der glaubt auch, dass Prinzessin Diana die Königin der Herzen ist.
Die legendäre »edition suhrkamp« traut sich tatsächlich einem Autor zum Thema Massenmedien ein Forum zu geben, der sich nicht nur, als Westminister Abbey den Trauerzug Dianas mit Glockenschlägen begleitete, spontan der Beerdigung anschloss, sondern bis in sein Buch hinein noch davon ergriffen ist: »Tatsächlich ahmten wir . . . das Verhalten von Millionen Menschen nach . . . , um eine Pilgerfahrt nach London anzutreten.« Dieser religiöse Ton mündet dann im Glauben, dass der Akt persönlicher Teilnahme am Begräbnis der Diana zur temporären Enteignung der Medien durch die Massen geführt und »es so den Klauen der Medien« entrissen habe. Ob Silverstone jemals zuvor oder danach an der Beerdigung einer ihm persönlich nicht bekannten Kindergärtnerin, die durch einen Unfall starb, teilgenommen hat? Die Zweifel daran sind berechtigt und mehr noch jene an der Fähigkeit eines Medienwissenschaftlers, der die lebende Diana nicht als Projektionsfigur begreift, als Handpuppe der Medien, noch im Tod eine öffentliche Maske mit der das kümmerliche Leben der Massen durch das Leid fremder Leute kaschiert wird.
Es ist die Maskerade, die Silverstone für den originären Ausdruck der Volkskultur hält. Deshalb ist ihm der Karneval wichtig, weil in ihm das Verfahren der »Umkehrung« sichtbar würde, der kontrollierten Überschreitung, die »Ein Gefühl der Zugehörigkeit« erzeuge. Diesen Karneval des Prekariats sieht er in der Jerry-Springer-Show - dem Tollhaus der öffentlich präsentierten Untreue, des Inzest und der Schmähungen, regelmäßig im US-TV dargeboten - in höchster Vollendung ausgestrahlt. Dass in dieser Mutter aller TV-Entblödungen die Laiendarsteller, zumeist arme Farbige, nur der Denunziation preisgegeben werden, dass sie preiswerte Komparsen in einem billigen Spiel sind und nichts mit dem ursprünglichen Karneval, in dem noch ein Moment der Auflehnung steckte, zu tun haben, dass ist dem Autor nicht begreiflich. »Dabei (der Springer-Show) werden Grenzen zugleich überschritten und durch diese Überschreitung bekräftigt«: Neger, bleib bei Deinen Leisten.
Kein Wort zur Bestätigung niedrigster Instinkte durch die Massenmedien, kein Wort zum Missbrauch des Wortes »frei« wenn in den Nachrichten von »Freisetzung« die Rede ist, kein Wort zum Verschweigen kompletter Hintergründe, zur Konzentration der Medien in wenigen Händen, zur Übermacht solcher Sender wie CNN. Dann, ganz zum Schluss, taucht ein Satz auf: »Die Freiheit der Medien und die des Marktes bedrohen die Freiheit insgesamt.« Woher diese Erkenntnis kommt, bleibt unerklärt. Denn in Silverstones Arbeit fehlen die Worte »Interessen« und »Profit« völlig. Dass in einem Gemüseladen das Gemüse nicht verkauft wird, um den Hunger der Kunden zu stillen, sondern weil der Gemüsehändler Geld verdienen muss, ist dem Gelehrten nicht erkennbar. Und dass der fraglos reale Hunger auch gerne mit Ersatzstoffen befriedigt wird, wenn die nur billiger sind als Gemüse und der Kunde zu blöde ist sich zu wehren, scheint ihm eine zu banale Realität zu sein. Wahrscheinlich hat er sich für eine Katze gehalten.